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KLAVIERWERKE VON JÖRG WIDMANN Lassen Sie uns das Gespräch mit der ältesten Klavierkomposition auf dieser CD eröffnen, den »Fleurs du mal« aus dem Jahr 1996/97. Kein vorsichtiges Herantasten an die traditionsreiche Gattung der Klaviermusik. Sie gehen, so scheint es mir, gleich aufs Ganze und suchen den musikalischen Grenzgang – das Klavier wird in riskante Grenzbereiche geführt. Die Fleurs du mal sind sicherlich eine Art Endspiel und leben von der pianistischen Entfesselung. Das Ohr muss in dem Stück sehr schnell sein, denn der Gestus wechselt oftmals abrupt: kurz aufflackernde, punktuelle Musik hier – dort die perlende Oberfläche. Diese klangliche Ideenvielfalt wird allerdings durch eine strenge Form gebändigt. Im Untertitel bezeichnen Sie die »Fleurs du mal« als »Klaviersonate nach Baudelaire« … … eben weil mich ein Spannungsfeld fasziniert hat: Baudelaire, dieser Meister der Delirien und des Visionären, gießt seine Texte vom Bösen in eine exemplarisch klassische Form: die Sonettform. Genau diese Polarität findet eine Entsprechung in meiner Komposition. Mich hat damals natürlich auch die ästhetische Grundausrichtung der Fleurs du mal von Baudelaire interessiert: das Schöne im Bösen. Ich musste diese Gedichte immer und immer wieder lesen – sicherlich auch, weil ich mich in diesen Texten wieder gefunden habe. Es war dann eine enorme Herausforderung, diese giftigen grünen Dämpfe der Literatur in den Klavierklang zu übersetzen. Das Klavier erschien mir anfangs viel zu konkret für dieses schwebend Ungenaue. Beziehen Sie sich in Ihren »Fleurs du mal« auf einzelne Baudelaire-Gedichte? An einer wichtigen Stelle zitiere ich die erste Verszeile aus dem Gedicht Albatros. Der Text ist in die Noten hineingeschrieben, vom Pianisten aber nur stumm zu lesen: »Souvent pour s’amuser«. Der musikalische Rhythmus ist hier direkt von der Baudelaire-Stelle abgeleitet, aber das ist in dem Stück die Ausnahme. Ansonsten spüre ich eher allgemein dem besonderen Sprachklang der Baudelaire-Gedichte nach. Im Gedicht Albatros ist von der Bösartigkeit der Matrosen die Rede, die sich – zu ihrem eigenen Amüsement – Albatrosse fangen und diese quälen. Letztlich ist das Gedicht aber eine Metapher des Künstlerdaseins, denn Baudelaire vergleicht den Albatros mit dem Poeten. Meine Fleurs du mal erzählen davon: Da fliegt jemand. Aber nicht mehr lange. Das bringt mich zu den »Elf Humoresken« aus dem Jahr 2007, denn auch hier beschreiben Sie einen Absturz. Der letzte Satz, »Mit Humor und Feinsinn«, beginnt zart-poetisch, mit fernen Klängen, die man wie hinter Milchglas hört. Über der Musik liegt ein melancholischer Schleier – bis dieser weggerissen wird und die Musik in einen jähen Abgrund stürzt. Ja, in diesem Stück geht etwas kaputt – eine zerstörte Spieluhr, ein krankes Glockenspiel. Der Absturz bahnt sich jedoch schon früh in diesem Satz an: Eine Note bleibt hängen, die Musik läuft ins Leere, die Musik verschwimmt … Für mich erscheint es zwangsläufig, dass die Musik in einer Art Katastrophe endet. Erzählen Sie bitte von den anderen Sätzen! Es sind Charaktersätze, ganz im Sinne der Charakterstücke von Robert Schumann, auf den die Elf Humoresken unmissverständlich verweisen. In den Humoresken spüre ich den Schumannschen Gesten auf meine mir eigene Weise nach: im dritten Satz, »Anfangs lebhaft«, dem fiebrig-nervösen Schumann-Ton, der im Verlauf jedoch regelrecht ausgebremst wird. »Lied im Traume« reflektiert die Schumannschen Geistervariationen – so kurz wie es ist, ein hoch riskantes Stück Musik. Gegen das originale Es-Dur ist ein hohes A schroff gesetzt. Schumann hörte in seinen letzten Lebensjahren einen Tinnitus-Ton auf A. Er muss ihn fürchterlich gequält haben – bei einem Stück in Es-Dur! Diese Stelle ist aber das einzige richtige Zitat, das mir bewusst ist. Mir ging es nicht um eine vordergründige Schumann-Hommage. Ich habe ohnehin den Eindruck, dass Sie hier eine Musik geschaffen haben, die unter der Maskerade einer »Humoreske«, vielleicht auch unter dem Deckmantel Schumanns, sehr ernste und sehr persönliche Themen berührt. Ich würde mich freuen, wenn Sie die Musik so wahrnehmen. Sehen Sie: Auch bei Schumann gibt es Zitate oder direkte Bezüge. Da kann jeder sagen: Ah, hier ist das Zitat! Schön und gut, aber warum zitiert denn Schumann diese Stelle? Und dramaturgisch wo? Was hat er damit gemeint? Wie waren seine persönlichen Umstände? Mich interessiert diese zweite Ebene. Machen wir einen Sprung zurück ins Jahr 2001, zum gerade mal etwa 90 Sekunden langen »Fragment in C« … … das meinem ehemaligen Kompositionslehrer Wilfried Hiller zum 60. Geburtstag gewidmet ist. Was kann ich mit dem Ton C, mit einem C-Dur-Akkord machen? Ich habe bei Wilfried Hiller genau über solche Fragen nachgedacht. Bei ihm lernte ich, Töne wegzulassen. Das Fragment in C ist davon inspiriert. Eigentlich ist es ein Oberton-Stück über den Ton C, mit einigen sehr seltsamen Akkorden zu C-Dur. Mir gefällt an dem Stück das Offene, das Fremdartige – all das erwächst aus einem einfachen Klang in C. Das Stück wird durch einen wuchtigen Schlag auf den Klavierkorpus eröffnet, der in einem Echoraum nachklingt. Dieses Prinzip wird in der »Toccata«, die Sie ein Jahr später komponierten, wichtig. Ganz genau. Anschlagen – Nachklingen. Beide Ebenen sind in vielen Varianten auskomponiert. Dem Hörer drängen sich natürlich die drastischen Anschlagsformen auf, das »toccare« des Pianisten: die schnellen Repetitionen, das Anreißen der Akkorde, erst recht das Schlagen des Klavierdeckels. Ich würde mir aber wünschen, dass man auch in die Nachklänge hineinhört. Das Stück ist als Auftragskomposition des Internationalen Musikwettbewerbs der ARD entstanden. Es löste bei der Uraufführung eine harsche Reaktion beim Publikum aus. Ich erinnere mich, wie die Preisträgerin Irene Russo auf die Bühne ging, als wollte sie zur Exekution schreiten. Da saß eine hungrige Löwin am Klavier und schleuderte, ja peitschte den Klang aus dem Klavier heraus. Es herrschte eine ungemein explosive Atmosphäre im Münchner Herkulessaal. Die »Lichtstudie III« ist nur wenig später komponiert, und atmet doch eine völlig andere Luft. Ein introvertiertes, beklemmendes Stück in meinen Ohren. Ich suchte damals nach einem anderen Ausdrucksideal, und es ist kein Zufall, dass ich mich von der Bildenden Kunst, den Raum- und Licht-Installationen von James Turrell, inspirieren ließ. Die Lichtstudie ist auf der Suche nach dieser anderen Ästhetik ein extremes Stück. Es ist ein Spiel der reinen Form, eine Studie über Licht- und Schatteneffekte, auch über Akkorde, die nach einem Filterprinzip Ton für Ton subtrahiert werden. Man wünscht sich nach einer gewissen Zeit nichts sehnlicher als einen Befreiungsschlag oder einen Kontrast. Aber das Stück beharrt auf einer einzigen Idee und bleibt statisch. Daher rührt die abgewandte Atmosphäre. Die Lichtstudie führt in beklemmende Räume – und ermöglicht zugleich ein neues, kristallines Hören. Man hört danach anders. So wünsche ich es mir jedenfalls. |
Programm:
[01] Fleurs du mal Piano Sonata after Baudelaire (1996/1997) 19:05 [02] Fragment in C (2001)* 01:47 [03] Toccata (2002) 09:34 [04] Lichtstudie III (2002) 16:53 Elf Humoresken (2007)* 22:36 total time 70:20 Jan Philip Schulze piano * World Premiere Recordings |
Pressestimmen:
Il y a quelques mois, notre média présentait le passionnant enregistrement de Fabio Romano qui croise des opus de Robert Schumann à deux pièces de Jörg Widmann. Paru en 2010 chez Wergo, le label des éditions musicales Schott qui publie les partitions du compositeur bavarois, ce disque dessinait les arcanes d’une filiation volontiers revendiquée, comme Mozart et Debussy [lire notre chronique du 25 novembre 2007 et du 11 septembre 2006] – référence tout récemment ravivée par la création française du trio Es war einmal… par l’auteur et ses amis Tabea Zimmermann et Dénes Várjon [lire notre chronique du 11 mars 2016]. Tandis qu’à Palerme le pianiste vient d’interpréter les Elf Humoresken, en cet avril qui fait fête à cette musique (une dizaine d’œuvres seront jouées au fil de vingt concerts à Bamberg, Cologne, Dortmund, Freiburg, Heidelberg, Karlsruhe, Liège, Mannheim, Stuttgart, Vicence, Vienne, Zurich, etc.), il n’est jamais trop tard pour revenir sur un CD coproduit par le Bayerischer Rundfunk et NEOS en 2013. BB
04.2014 […] Die „Fleurs du mal“ […] kennzeichnen rauschhafte Fantastik und pianistische Entfesselung – ein melancholisches Delirieren, das Widmann mit der Sonatenform kollidieren lässt. […] „Lichtstudie III“ (2002) markiert die andere Seite von Widmanns Ästhetik: Eine entrückte Klangmeditation, die sich auf wenige Ereignisse und deren Echoräume beschränkt, akustische Inseln im Zustand konstruktiver Schwerelosigkeit – nur Farbe und Licht. Die „Elf Humoresken“ (2007) könnten […] Schumanns „Kinderszenen“ entsprungen sein. Dirk Wieschollek Musik:
10/2013, Sémele Número 1 Baudelaire, Schumann, el delirio, la fiebre y la visión, la belleza del mal, son nombres e ideas que subyacen en la música para piano del gran compositor y clarinetista alemán Jörg Widmann, uno de los nombres fundamentales en la escena musical internacional en su doble faceta de inspiradísimo autor de una obra proteica y multiforme, y de virtuoso intérprete para quien escriben los más respetados compositores.
Jörg Widmann Es kann einem unheimlich werden mit Blick auf den umfangreichen Werkkatalog, zahlreiche Aufführungstermine, Einspielungen mit namhaften Musikern, Auszeichnungen, vor allem aber auf sein leidenschaftliches und unermüdliches Tun als Komponist, Klarinettist und neuerdings auch Dirigent. Jörg Widmann, der in diesem Sommer seinen 40. Geburtstag feiert, gehört zweifellos zu den erfolgreichsten deutschen Komponisten und Musikern seiner Generation. Beim Label NEOS ist nun eine CD mit Klaviermusik von ihm erschienen, aufgenommen vom Pianisten Jan Philip Schulze. Fünf Werke aus den Jahren 1996 bis 2007 hat Schulze eingespielt, die Widmanns vielschichtiges, vor Ideenreichtum nur so sprühendes und wandlungsfähiges Komponieren repräsentativ hörbar machen: „Fleurs du mal“, eine „Sonate nach Baudelaire“ (1996/97), „Fragment in C“ (2001), „Toccata“ (2002), „Lichtstudie III“ (2002) und die „Elf Humoresken“ (2007). Grenzenlose klangliche Vielfalt „Fiebrig-nervöser Schumann-Ton“ Spannende Hörräume Meret Forster |