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DANIEL OSORIO: ZIKKUS Die Zikkus-Reihe beginnt 2007, während des Studiums des Komponisten an der Hochschule für Musik Saar, und spiegelt im Rückblick seinen künstlerischen Werdegang und sein politisches Fühlen und Denken. Das Kompositionsstudium als selbstgewähltes »Exil« stößt bei Daniel Osorio einen längeren Entwicklungsprozess an, in dem er unter anderem seine europäische Musikausbildung hinterfragt und Verbindungen zu seinen ersten musikalischen Erfahrungen sucht. In diesen spielte weder das Klavier noch ein anderes europäisches Instrument eine maßgebliche Rolle, vielmehr wuchs er mit den Klängen der andinen Instrumente Charango, Kena und Sikus (Panflöte) auf, die im Chile der Pinochet-Diktatur eine widerständige und klandestine Bedeutung hatten. In Verbindung gebracht mit der gestürzten sozialistischen Regierung Salvador Allendes, wurden die indigenen Instrumente verachtet und waren de facto verboten. Die Erinnerungen an die Klangsprache der andinen Instrumente und an die Schrecken der Diktatur haben Daniel Osorio nicht losgelassen und kehren im Kompositionsprozess von Zikkus mit voller Kraft zurück. Es sind Fragmente einer politischen Klanggeschichte, die in den Arbeiten lebendig wird, basierend zum einen auf dem eigenen Musikspiel und zum anderen auf akustischen und musikethnologischen Forschungen des Komponisten rund um die Sikus-Flöte. So entstehen fünf Stücke für Solo-Instrumente und Elektronik, welche sich mit den unterschiedlichen musikalischen und kulturellen Facetten der Sikus auseinandersetzen. Die kreative Gestaltung des Materials mit den Werkzeugen einer europäischen Kompositionstradition spiegelt sich auch in der leichten Verfremdung des Instrumentennamens: »Zikkus«. Alle Arbeiten werden schließlich in einem Werkzyklus zusammengefasst, um die in der Zeit verstreuten, bruchstückhaften Erinnerungen, Gedanken und Gefühle zu vereinen und ihnen durch den künstlerischen Schaffensprozess einen festen Platz im Gedächtnis des Komponisten zu geben.
Zikkus-V ist eines der ersten Stücke der Zikkus-Reihe und basiert zum einen auf einer Spektralanalyse ausgewählter Noten der Sikus-Flöte und zum anderen auf den rituellen Elementen des Musikspiels der Sikuris. Diese akustische und musikethnologische Recherche ermöglichte eine erste Annäherung an die andinen Musiktraditionen aus der Perspektive einer europäisch geprägten Kompositionspraxis. Ausgangspunkt von Zikkus-F ist die Erzählung Reunión (Versammlung) des argentinischen Schriftstellers Julio Cortázar. Dieser beschreibt auf eindrucksvolle Weise die Atmung der Hauptfigur Ché Guevara, die durch sein Asthma erschwert ist. Der Klang dieser Atmung wird in Zikkus-F hörbar gemacht und ist wesentlicher Bestandteil des Stückes. Die philosophische und spirituelle Bedeutung des Atems in der fernöstlichen Tradition findet sich auch in den Kulturen der andinen Hochebene, beim Spielen der Sikus-Flöte, wieder. Hier unterstreichen verschiedene Atemtechniken den rituellen Charakter des Musizierens: Denn beispielsweise durch ein Anhalten des Atems und ein darauffolgendes sehr langsames Auslassen der Luft, das die Klänge der Sikus verlängert, in Kombination mit sehr schnellen Atembewegungen aus dem Bauch, können die Flötenspieler einen Zustand der Bewusstseinserweiterung erlangen. Der Atem als Archetyp der Gemeinschaft wird in Zikkus-F von der europäischen Querflöte repräsentiert. Ihr traditioneller Klang wird durch elektronische Verfahren »gedehnt« und »komprimiert« und schafft so neue akustische Texturen, die sich gänzlich von den ursprünglichen Klängen unterscheiden und doch aus ihnen entstanden sind.
Der Versuch des Stücks, die Symbolik des Klaviers und seine begrenzten klanglichen Möglichkeiten zu brechen, geschieht hier durch die Zerlegung seines Klangspektrums. Dies zum einen durch die Elektronik und zum anderen durch das Anschlagen seines Klangkörpers mit verschiedensten Alltagsobjekten. So werden neuartige Klangspektren erzeugt, welche die akustischen Elemente und klangästhetischen Werte der Anden-Musik durchscheinen lassen.
Den spanischen Kolonisatoren, die seit dem 15. Jahrhundert versuchten, den präkolumbinischen Völkern die Paradigmen europäischer Musik aufzuerlegen, ist es nicht gelungen, die kulturellen Ausdrucksformen in den Anden vollständig zu unterwerfen. Die Aymara beispielsweise leisteten mit ihrer kulturellen und musikalischen Tradition einen versteckten Widerstand, der dem kolonialen Klerus entging. So sind auch heute noch in der Musik der Aymara Klänge und Klangfarben wahrnehmbar, welche die westliche Tradition – nicht ohne eine gewisse Arroganz und Überheblichkeit – als klangliche »Derbheiten« und scheinbare Unstimmigkeiten beschreibt. So sucht etwa die Klangästhetik der Aymara bewusst die Schwebung zwischen zwei oder mehreren Noten, sei es in Unisono, in Oktaven, Quarten oder reinen Quinten – ein akustisches Phänomen, das die Instrumentenbauer seit jeher erreichen, indem sie die Instrumente jeder Musikgruppe mit leichten Verschiebungen stimmen. Und dies macht auch die Schönheit und Besonderheit der Instrumentenbaukunst der Aymara aus: Sie entwickeln geistreiche Ideen und Lösungsansätze, um mit einem Minimum an materiellen und klanglichen Ressourcen die traditionelle Polytonalität zu ermöglichen. Polytonalität, Schwebungen und klangliche Verschiebungen werden in Zikkus-S mit minimalen Klangressourcen verarbeitet, durch die Elektronik neu interpretiert und gewinnen ihren durch die Kolonialisierung verlorenen ästhetischen Wert zurück. Zikkus-K beschäftigt sich mit der musikalischen Praxis der Suri Siku, einer besonderen Art der Sikuris-Musikgruppen. Die gewöhnlichen Sikuris-Spieler führen ihre Musik in sich ergänzenden Paaren auf und verteilen die Melodie auf zwei Gruppen (ira / männlich und arka / weiblich) – ähnlich dem Hoquetus, einer mehrstimmigen europäisch-mittelalterlichen Satztechnik. Die Suri Siku hingegen verwenden eine komplette diatonische Tonleiter, wobei der kollektive und binäre Charakter im Spiel erhalten bleibt: Die Antwort einer Gruppe (arka) folgt derselben Note der vorhergehenden Gruppe (ira), sodass während des Spiels eine Art »Echo« erzeugt wird. Diese Symmetrie ist auch wichtiger Teil des sozialen und spirituellen Ordnungssystems der Aymara-Gesellschaft, in dem verschiedene Gegensatzpaare, wie oben–unten, Mann–Frau, Tal–Hochebene etc. eine strukturierende Rolle spielen. Diese Gegensätze, Dualismen und Symmetrien werden im Schreibprozess von Zikkus-K aufgegriffen und tauchen in den rhythmischen Strukturen, in der Taktverteilung und in den verschiedenen Tonreihen auf. Durch seine zahlreichen Wiederholungen spiegelt das Stück auch eine der musikalischen Geste inhärente, fast mantrische Simplizität des rituellen Musikspiels. Daniel Osorio / Alena van Wahnem Programm: Daniel Osorio (*1971) [01] Zikkus-F für Flöte und Live-Elektronik (2007) 12:27 [02] Zikkus-S für Bariton-Saxophon und Live-Elektronik (2013) 11:46 [03] Zikkus-V für Violoncello und Live-Elektronik (2007) 11:12 [04] Zikkus-P für Klavier und Live-Elektronik (2010) 09:17 [05] Zikkus-K für Klarinette und Live-Elektronik (2021) 13:17 Gesamtspielzeit: 58:12 Die Cronopien – Kollektiv für Interkulturelle Neue Musik Ersteinspielungen |