Sofia Gubaidulina: Chamber Music with Double Bass

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Artikelnummer: NEOS 11106-08 Kategorie:
Veröffentlicht am: Oktober 14, 2011

Infotext:

Sofia Gubaidulina · Kammermusik mit Kontrabass

Als ich vor vielen Jahren begann, Kontrabass zu spielen, entwickelte ich gewisse Ahnungen davon, was das sein könnte: eine Musik für Kontrabass. Die elementare Gewalt des dunklen, erdigen Tones, besonders aber die zufälligen Klänge, Geräusche und Obertonspektren befeuerten dabei meine Fantasie. Im Laufe der Zeit habe ich viele Kompositionen aufgeführt, welche die Möglichkeiten des Kontrabasses auf kunstvolle Art nutzen. Im Werk Sofia Gubaidulinas aber fand ich eine Musik, die das Wesen meines Instruments in bisher nicht gekannter Tiefe und Wahrhaftigkeit ausschöpft. Hier konnte ich meine Klangfantasien aus der Vergangenheit wieder finden – auf geniale Weise zu musikalischer Form verdichtet.

Die vorliegenden Aufnahmen erscheinen anlässlich des 80. Geburtstages von Sofia Gubaidulina. Gerade in den letzten Jahren hat die Komponistin vermehrt Musik für Kontrabass komponiert und von einigen ihrer Werke neue Versionen mit Kontrabass verfasst. Durch unsere Einspielung sind diese Werke zum ersten Mal in ihrer Gesamtheit hörbar. Darüber hinaus lässt sich hier die Entwicklung des Schaffens von Sofia Gubaidulina über fünf Jahrzehnte hinweg verfolgen.

Die folgenden Gedanken stützen sich auf persönliche Gespräche mit der Komponistin sowie auf die Biografie von Michael Kurtz (Urachhaus, 2001) und das Buch Zahlenmystik in der Musik von Sofia Gubaidulina von Valeria Zenowa (Kuhn/Sikorski, 2001).

»Ich bin überzeugt, dass die Musikinstrumente, über ihre Beherrschung durch den Menschen hinaus, viele weitere Klänge in ihrer Natur haben und ausdrücken wollen. Aber die menschliche Arroganz lässt uns mit unserer Routine fortfahren, die Instrumente zum Spiel nach den Noten zu zwingen, und wir vergessen, aus ihnen die Töne hervorzulocken, die sie wirklich spielen wollen.« (Kazue Sawai)

Die Töne zu erspüren und freizusetzen, die dem ureigenen Wesen der Instrumente inne-wohnen, diese Fähigkeit Sofia Gubaidulinas prägt ihre Musik wesentlich. Ihr Zugang zu den Instrumenten ähnelt dem zu lebendigen Wesen. Mit allen Sinnen sucht sie ihre Eigenschaften zu ergründen. Durch ihre außerordentlich starken spirituellen Fähigkeiten, die sich aus einer tiefen Religiosität speisen, gelingt es ihr, gleichsam die Seele eines Instruments zu erkennen und dieser eine Stimme zu verleihen.

»Ich will die Materie befreien und der Form ein Gesetz geben.« (Sofia Gubaidulina)

Das Gespür für vollkommene Proportionen deutet sich schon in frühen Werken Sofia Gubaidulinas an. Zu Beginn der 1980er Jahre gelangte sie hier zu neuen Lösungen durch die Auseinandersetzung mit der Musiktheorie von Pjotr Meschtschaninow. Besonders die Vorstellung von der Entwicklung des gesamten musikalischen Materials aus einem einzigen Gesetz heraus ist es, welche die Arbeit der Komponistin von nun an prägt.

Zentrale Bedeutung hat dabei die Fibonacci-Reihe, in der jede Zahl die Summe der beiden vorherigen bildet: 0-1-1-2-3-5-8-13-21 usw. Diese Reihe nähert sich in ihrem Verlauf dem goldenen Schnitt an und kommt als Bauprinzip in vielfältiger Form in der Natur vor, z. B. bei der Anordnung von Blütenblättern oder Zweigen an Bäumen. Die Materie, befreit durch Intuition und Fantasie, trifft auf das Gesetz der Zahl, und das sogenannte Zahlensujet entsteht:

»Dann lässt man die Arbeit liegen, geht in den Wald und stellt sich das Spiel der Punkte des goldenen Schnitts, ihr ›Tanzen‹ vor; ohne dass man es will, verwandeln sich die Zahlen zu realen Klangschichten, und die Musik beginnt zu strömen!« (Sofia Gubaidulina)

Diese Zahlenmystik ist keine esoterische Spielerei, sondern notwendiges Mittel, um der Musik gleichsam eine natürliche Evolution zu ermöglichen und sie damit zum Abbild der göttlichen Schöpfung zu machen.

»Ich strich mit dem Bogen eine Saite, und plötzlich, im selben Moment, spürte ich, dass dieser Klang meine Seele ist.« (Sofia Gubaidulina)

Im Jahr 1975 gründete Sofia Gubaidulina zusammen mit Vyacheslav Artyomov und Viktor Suslin die Improvisationsgruppe Astreja, die bis 1981 bestand. In diesem ›Komponistenlabor‹ übten sich die drei in der freien Improvisation auf vielfältigen Folklore-Instrumenten und erweiterten so den Horizont ihres Schaffens.

Schon die Fünf Etüden für Harfe, Kontrabass und Schlagzeug von 1965 weisen improvisatorische Elemente auf. Seitdem sind metrisch freie Abschnitte oder Passagen vollkommener improvisatorischer Freiheit ein wichtiger Bestandteil ihrer Werke. Einige Aufnahmen sind von den Astreja-Improvisationen erhalten geblieben: sie waren eine wichtige Inspirationsquelle bei der Vorbereitung dieses Projekts, denn der Einfluss der Arbeit mit Astreja auf die Werke Sofia Gubaidulinas ist unverkennbar.

»Die Tatsache, dass diese Materie organisch und nicht mechanisch ist, wurde besonders evident. Und einen Organismus zu töten ist ja so leicht! Einige egoistische Impulse, einige unvorsichtige Bewegungen – und alles ist zu Ende.« (Viktor Suslin)

Suslin bezieht sich in seiner Äußerung auf die Arbeit mit Astreja, sie gilt jedoch auch für die Interpretation der Musik Sofia Gubaidulinas. Als Beispiel kann das häufig wieder-kehrende Element der Flageolett-Glissandi dienen: Ihre Ausführung kommt einem Spiel mit dem Zufall als Duo-Partner gleich, bei dem zufällige Klangfolgen unentwegt spontane Reaktionen erfordern, um das Klanggewebe unversehrt zu halten und fortzuspinnen.

Ohnehin ist die Faktur dieser Musik, trotz ihrer elementaren Kraft, sehr fragil: nur das unbedingt Notwendige ist schriftlich fixiert, alles andere will durch unablässiges Befragen der Partitur entdeckt und erspürt werden. Dabei wirkt die Einfachheit des Notenbildes wie ein schützender Spiegel, an dem der erste Blick des Betrachters abgleitet und der nichts erahnen lässt vom Reichtum der Strukturen.

Im Idealfall ähnelt die Klangwerdung der Musik Sofia Gubaidulinas einem Jahrhunderte alten Baum: Seine Proportionen sind vollkommen, aber Jahreszeiten, Wind und Wetter haben ihn geformt und seinen Charakter weiter geprägt. Er ist klar zu erfassen und zugleich undurchdringlich komplex in seinem Kosmos an Formen und Farben. Sein Wesen kann auf vielfältigste Weise erfahren werden, aber er hütet sein Geheimnis.

Martin Heinze

Programm:

CD 1
total time 58:38

Five Etudes for harp, double bass and percussion (1965) 12:28

[01] I Largo 03:09
[02] II Allegretto 02:10
[03] III Adagio 02:31
[04] IV Allegro disperato 01:37
[05] V Andante 03:01

Elsie Bedleem, harp · Martin Heinze, double bass · Jan Schlichte, percussion

[06] Pantomime for double bass and piano (1966) 09:25

Adagio – Allegro – Largo

Martin Heinze, double bass · Heike Gneiting, piano

Eight Etudes for double bass (1974/2009) 23:19

[07] I staccato – legato 01:41
[08] II legato – staccato 03:18
[09] III espressivo – sotto voce 02:18
[10] IV ricochet 02:16
[11] V sul ponticello – ordinario – sul tasto 03:09
[12] VI al taco – da punta d’arco 01:40
[13] VII pizzicato – arco 03:10
[14] VIII senza arco 05:47

Martin Heinze, double bass

[15] Sonata for double bass and piano (1975) 13:02

Martin Heinze, double bass · Heike Gneiting, piano

 

CD 2
total time 56:39

[01] In Croce for double bass and bayan (1979/2009) 15:26

Martin Heinze, double bass · Elsbeth Moser, bayan

[02] Quasi Hoquetus for viola, double bass and piano (1984/2008) 15:00

Ulrich Knörzer, viola · Martin Heinze, double bass · Heike Gneiting, piano

Silenzio for bayan, violin and double bass (1991/2010) 19:51

[03] I 04:00
[04] II 03:29
[05] III 02:51
[06] IV 01:30
[07] V 08:01

Elsbeth Moser, bayan · Lisa Marie Landgraf, violin · Martin Heinze, double bass

[08] Ein Engel Lied for alto and double bass, on a poem by Else Lasker-Schüler (1994) 05:59

Vanessa Barkowski, mezzo-soprano · Martin Heinze, double bass

CD 3
total time 71:59

Galgenlieder à 3 (Gallows Songs)  47:20
15 pieces for mezzo-soprano, percussion and double bass (1996)
on poems by Christian Morgenstern

[01] Die Mitternachtsmaus 03:34
[02] Das Nachdenken 02:58
[03] Das ästhetische Wiesel 01:49
[04] Das Knie 02:29
[05] Das Spiel I 01:57
[06] Das Spiel II 02:46
[07] Die Beichte des Wurms 02:33
[08] Der Psalm 02:23
[09] Der Tanz 07:01
[10] Das Gebet 03:53
[11] Das Fest des Wüstlings 02:35
[12] Improvisation 01:53
[13] Fisches Nachtgesang 01:48
[14] Nein! 02:39
[15] Das Mondschaf 07:02

Vanessa Barkowski, mezzo-soprano · Jan Schlichte, percussion · Martin Heinze, double bass

[16] Pentimento for double bass and three guitars (2007) 24:32

Martin Heinze, double bass · Guitar Ensemble Quasi Fantasia

Pressestimmen:

10.2013

 


No. 93/2012

 


codaex.blog.de

Martin Heinze · KlangArt Berlin and friends: Sofia Gubaidulina – Chamber Music with Double Bass
Geschrieben von Nils-Christian Engel in CD des Monats, Neuerscheinungen, Rezension

Unser Gast-Rezensent Nils-Christian Engel studierte Evangelische Theologie in Tübingen, Prag, Leipzig und Halle (Saale). Er arbeitet als PR-Journalist, bevorzugt an Streicherthemen, mit der persönlichen Begeisterung eines Amateur-Cellisten.

Sofia Gubaidulina (*1931) und ihr weites, vielseitiges Werk erfahren in diesem Jahr allseits besondere Aufmerksamkeit, anlässlich des 80. Geburtstages der großen Komponistin. Bei Neos legt Martin Heinze nun eine umfassende Sammlung ihrer Arbeiten für Kontrabass vor – ein Genuss für Ohr und Geist, der mehr als drei Stunden währt und auch für denjenigen noch Überraschendes birgt, der Gubaidulinas Musik bereits für sich entdeckt hat.

Von ihren künstlerischen Anfängen bis in die Gegenwart hinein reichen die Stücke für Kontrabass, die hier erstmals in ihrer Gesamtheit eingespielt wurden: eine Wanderung durch die fast fünf Jahrzehnte ihres freien kompositorischen Schaffens, die auch eine gute Einführung in die Klangwelten Sofia Gubaidulinas bietet. Nicht zuletzt liefert Heinze mit diesen drei CDs ein starkes Plädoyer für den Bass, der solistisch und kammermusikalisch weiterhin zu den verkannten Instrumenten gerechnet werden muss, und dessen Fülle an klanglichen Möglichkeiten hier eindrucksvoll hörbar wird.

Dass gerade Sofia Gubaidulinas Musik dabei auch noch das allerletzte Ressentiment brummiger Bass-Schwerfälligkeit widerlegt, ist kein Zufall – im Gegenteil, denn in welchen Händen wäre eine Randexistenz wie der Kontrabass besser aufgehoben! Es ist ja gerade das außergewöhnliche Talent dieser Komponistin, jedem Instrument, für das sie schreibt, weitere Klangräume zu eröffnen als es zuvor selbst von sich kannte. Dieses Gespür für das instrumental Mögliche und die Neugier sind nicht nur der Ausgangspunkt ihrer Musik, sondern gehören zu ihren zentralen kompositorischen Verfahrensweisen – ein wichtiger Grund dafür, dass Sofia Gubaidulina zugleich ein erstaunlich großes Publikum erreicht wie sie für so viele Musiker interessant ist, die „Klangphantasien aus der Vergangenheit … auf geniale Weise zu musikalischer Form verdichtet“ finden, wie es Martin Heinze in seinem aufschlussreichen und persönlichen Begleittext schildert. Solches geschieht wohl nicht nur dem Kontrabassisten selten – und dass auch der Zuhörer von dieser hochmodernen Tonkunst berührt wird, ist eine glückliche Koinzidenz.

Denn über die komplexen künstlerischen Strukturen im Werk von Sofia Gubaidulina hinaus, die nach und nach ihre angemessene Würdigung durch die Musikwissenschaft erfahren, ist es der offene, organische Charakter, der ihre Klangsprache auszeichnet und von einer Zugänglichkeit ist, wie man sie der Gegenwartsmusik nicht gerade nachsagt. Wo Heinze den konstitutiven Raum für die Improvisation lobt, der dem interpretierenden Musiker eröffnet wird, kann das Ohr etwas wie eine Poesie des Hörens erfahren; und die Einladung dazu wird bei dieser Veröffentlichung leicht und gern angenommen, allein schon wegen der Vielseitigkeit der Themen und der Ensembles, in denen der Bass seine Stimme erklingen lässt.

Zu Beginn stehen die Fünf Etüden für Harfe, Kontrabass und Perkussion von 1965, Gubaidulinas erste künstlerische Veröffentlichung, die nicht nur ein Zeugnis ihrer frühen Meisterschaft ist, sondern auch ein Dokument der leisen und vollkommen kompromisslosen Unvereinbarkeit mit der sozialistischen Kunstdoktrin, wegen der sie bis Mitte der 1980er Jahre nur unter schwierigen Bedingungen arbeiten und leben konnte. Es ist interessant, im Fortgang des chronologisch angelegten Programms zu beobachten, dass der Kontrabass regelmäßig wiederkehrte: 1966 mit der Pantomime für Bass und Klavier, 1974 mit den Acht Etüden für Kontrabass und ein Jahr später mit der Sonate für Kontrabass und Klavier.

Die zweite CD dokumentiert die lange und tiefe Beschäftigung Gubaidulinas mit dem russischen Knopf-Akkordeon Bajan, wie der Kontrabass ein Außenseiter unter den Instrumenten und die wohl prominenteste „musikalische Rettung“ der Komponistin. In Croce von 1979 für Bass und Bajan, besonders aber Silenzio für Bajan, Violine und Kontrabass von 1991 sind Höhepunkte dieser Sammlung, die zudem weite Ausblicke zu anderen prominenten Werken Gubaidulinas bieten, etwa zu ihrem Violinkonzert in tempus praesens, das Silenzio an mancher Stelle berührt.

Neben Quasi Hoquetus von 1984 für Viola, Bass und Klavier bringt die zweite CD das Lied Ein Engel für Alt und Bass zu Gehör, die 1994 entstandene Vertonung eines Gedichts von Else Lasker-Schüler, die zu den 15 Galgenliedern von Christian Morgenstern auf der dritten CD überleitet, letztere komponiert im Jahre 1996 für Mezzo-Sopran, Perkussion und Kontrabass. Seinen fulminanten Abschluss findet das Programm im Pentimento von 2007, der Bearbeitung von Ravvedimento, einer ursprünglich für Cello und Gitarrenquartett geschriebenen Komposition. Sie ist als solche ein weiterer, beeindruckender Beleg dafür, wie die offene Wandlungsfähigkeit des Klangempfindens im Werk Gubaidulinas zu kompositorischen Strukturen findet, die konstant, ja gesetzmäßig sind, ohne je zu erstarren.

Die Freude, die die Interpretation solcher Musik bereitet, ist dieser großartigen Referenz-Aufnahme für den Kontrabass durchweg anzuhören. Martin Heinze hat sie mit Kollegen realisiert, die nicht nur die erforderlichen hohen spielerischen Fähigkeiten mitbringen, sondern vor allem die künstlerische Reife für den Umgang mit einer solchen Musik, die Heinze treffend als von elementarer Kraft, zugleich aber sehr fragil charakterisiert. Dass das Gitarrenquartett Quasi Fantasia die Uraufführung von Ravvedimento spielte und die Bajanistin Elsbeth Moser die Widmungsträgerin von Silenzio ist, braucht dabei nur ergänzend bemerkt zu werden. Es scheint, dass die halboffene, netzwerkartige Struktur des Ensembles KlangArt Berlin, das Martin Heinze gemeinsam mit dem Perkussionisten Jan Schlichte und der Pianistin Heike Gneiting bildet, eine gute Grundlage für ein Projekt wie dieses ist, zumal dann, wenn es um Musik geht, die von nichts anderem gebunden ist als von der Freiheit der Kunst.

Unsere CD des Monats im November 2011.

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