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Mark Andre: …22,13…

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Artikelnummer: NEOS 11067-68 Kategorien: , ,
Veröffentlicht am: Januar 9, 2012

Infotext:

…22,13…
eine Musiktheater-Passion

Klangarchitektur der Apokalypse

Apokalypsen, denken wir, überrumpeln uns laut und brutal, die entfesselten Elemente walzen, brennen, wirbeln alles nieder, und aus den Menschen schreit die schiere Angst.

Mark Andres Apokalypse widerspricht diesem Bild. Sie ereignet sich vorwiegend leise, mit vielen Zonen der Stille. Die wenigen lauten Momente stechen desto schroffer hervor. Das Leise kennt viele Grade der Intensität, nicht nur in der Dynamik, sondern vor allem in der Anspannung, die sich zwischen den Tönen und Klängen aufbaut. Wie in vielen Kammermusikwerken dominieren auch in seiner »Musiktheater-Passion« die dunklen Instrumental-farben: Die Streicherfamilie ist durch Violoncelli und Kontrabässe, die Holzbläser durch Fagotte und Bassklarinetten, das Blech durch Posaunen vertreten.

Nur die menschlichen Stimmen haben ihre Ursprungslage in der Höhe. Die tiefen Instrumente eignen sich wegen ihrer Obertonspektren besonders gut für live-elektronische Verwandlung in Realzeit. Für diese Transposition der Instrumentalklänge in den Ton- und Aufführungsraum entwickelte Mark Andre gemeinsam mit dem Freiburger Experimentalstudio eine spezielle Software.

Bibeltexte lässt er einblenden, ganz zu Anfang, dann ab der Mitte in wachsender Zahl; sie stammen aus der Apokalypse und dem Johannes-Evangelium, sie werden überwiegend geflüstert. Bei Aufführungen kommen sie aus Lautsprechern, und obwohl über diese auch die live-elektronisch bearbeiteten Klänge eingespielt werden, wirken sie wie Einstrahlungen aus einer anderen Welt im Verhältnis zu den vier Gruppen von Instrumentalisten und Sängerinnen. Die Stimmen artikulieren vor allem Vokale auf viele verschiedene Arten, das A und das O. Was die Worte enthalten, verwandeln und konzentrieren sie. Das gilt für die Laut- und die Bedeutungsebene der Sprache gleichermaßen.

Chiffren, Zeichen, Gleichnisse

Auch der Titel dieser Passion, …22,13…, bezieht sich auf eine Stelle aus der Bibel. In deren letztem Buch steht im letzten, dem 22. Kapitel, als Vers 13: »Ich bin das A und das O, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende.« Danach folgen noch acht Verse, dann schließt die Heilige Schrift der Christen mit der Vision von der Verwandlung unserer Zeitwelt in eine Welt ohne Zeit. Vers 13 verrät den Code der Transformation, die Aufhebung der Zeit durch den, der da spricht: Christus. Den Dreisatz der Ewigkeit legte Mark Andre der Großstruktur seines Werkes zugrunde. Es besteht aus drei Teilen, sie sind überschrieben: …das O…, …der Letzte…, …das Ende…. Die Titel thematisieren in metaphysischen Kategorien, worauf wir uns hin bewegen, nicht die Ursprünge, aus denen wir stammen.

In der Offenbarung des Johannes von Patmos konzentriert sich in dem »Ich-bin«-Vers, was mit dem achten Kapitel der Schrift beginnt: »Und als das Lamm (Christus) das siebente Siegel auftat…« – das letzte Schloss an einem geheimen Buch, das die Geschichte der Welt enthalte. Der finale Teil hinter dem letzten Siegel entwirft in expressiven und symbolhaften Bildern Visionen des Grauens und der Katastrophen, in denen sich das Ende der Zeit ankündigt.

Das siebente Siegel nannte Ingmar Bergman den Film, in dem der Kreuzritter Block während einer Pestepidemie in seine schwedische Heimat zurückkehrt und mit dem Tod um sein Leben Schach spielt. Den Film kennt Mark Andre seit seiner Jugend, er faszinierte ihn von Anfang an. An Bergman erinnert die Entscheidung, etliche Bibeltexte für die Einblendungen schwedisch sprechen zu lassen. An Bergman erinnert aber auch die Tatsache, dass Andre eine Schachpartie als Zeitgitter für seine Komposition wählte.

1996 spielte der damalige Weltmeister Garry Kasparow sechs Mal gegen einen IBM-Computer und gewann. Im Mai 1997 trat er in der Revanche gegen die weiter entwickelte Version von »Deep Blue« an. Nach einem Sieg, einer Niederlage und drei Remis verlor er die entscheidende sechste Partie spektakulär durch Aufgabe nach dem 19. Zug. Das Ereignis löste heftige Diskussionen über Kommunikation und Herrschaftsverhältnisse zwischen Mensch und Maschine aus.

Mark Andre thematisiert die Erfahrung der Schlüsselszenen in diesem Match. Im ersten Teil …das O… rekonstruiert und reflektiert die Musik genau den Zeitverlauf des »Endspiels«, der sechsten Partie. Der Abstand zwischen den Zügen, die stummen, wenngleich nicht bewegungslosen Denkphasen, die auf Kasparows Seite gegen Ende des Vergleichs immer länger, auf Seiten »Deep Blues« aber immer kürzer, knapper, fast wie Schlagpausen geraten, bestimmen den musikalischen Ablauf: die einzelnen Impulse, die bisweilen nachhallen, die raschen Figuren, die sich überlagern, ablösen und an einer Stelle regelrecht jagen, die Stille, deren Grenze oft wie ein geheimer Magnet der Ereignisse wirkt und das Hörbare verschlingt.

Das zweite Spiel des Turniers von 1997 – Kasparows erste Niederlage – bestimmt den Zeitverlauf für die zweite und ein Stück weit auch für die dritte Szene. Musikalisch sind in diesem Teil alle vier Gruppen im Raum von Anfang an beteiligt. Hier wird die Passion im doppelten Sinne des Wortes reflektiert: als Leiden und als Leidenschaft. Musik- und Textstrukturen durchdringen sich immer stärker.

Apokalypse als Struktur und Gegenwart

Das Zeitmuster der Schachspiele wird im dritten Teil vom Bauprinzip der Apokalypse überlagert und abgelöst. Deren Autor legte seine Gedanken in Siebenerschritten dar; aus dem jeweils letzten entspringt dann wiederum eine neue Siebenerfolge. Andre blendet in …das Ende… Textpassagen über die sieben Engel der Apokalypse ein. Nach der letzten Sequenz bricht die Musik ab. Aus den Lautsprechern erklingt eine Montage, die der Komponist »Phantomzug« nannte. Das Wort enthält mehrfache Bedeutung. In der Form entspricht dieser Moment dem Zug, mit dem das »Phantom Deep Blue« Kasparows Niederlage (oder, übertragen auf Bergmans Film, das »Phantom Tod« das Ende des Ritters Block) besiegelt. Ein »Phantomzug« steht für ein grausames Ereignis im Holocaust. Am 30. Juni 1944 wurden aus dem Lager Le Vernet in Frankreich, in dem seit 1942 vor allem Juden interniert wurden, die letzten 400 Gefangenen deportiert, erst nach Bordeaux gebracht und dort in einen Zug mit Bestimmungsort Dachau gepfercht. Am 28. August kam der »Phantomzug« mit 291 Gefangenen in Bayern an. 57 apokalyptische Tage waren die Inhaftierten in Viehwaggons bei sengender Sommerhitze unterwegs. Hier rückt Mark Andres Musik der Apokalypse unserer Geschichte ganz nahe. Für Momente nimmt sie fast realistische Züge an – in Klängen, die dem Quietschen und Kreischen bremsender Züge ähneln. Sie erscheinen als Kulmination der härteren Schläge und Ausbrüche, die sich im dritten Teil von …22,13… häufen. Danach aber bleiben von Linien und Klängen nur noch Schemen, Anmutungen »asthmatischen« Atmens, Streifgeräusche über die Saiten. Auch in der live-elektronischen Bearbeitung bildet sich nicht mehr als ein Schatten- und Totenreich der Töne, beklemmend fahle Musik. Mark Andre dringt aus künstlerischer Konsequenz und mittels metaphysischer Reflexion in die Gefahrenzonen moderner menschlicher Existenz vor. Er sprach im Zusammenhang mit seiner Musiktheater-Passion von einem »Near-Death Experiment«.

Habakuk Traber

Programm:

…22,13…
A Music-Theatrical Passion
Opera in three acts for singers, instruments and live electronics (2004)

SACD 1 57:26

[01] I. …das O… (after “The Seventh Seal” by Ingmar Bergman) 19:52
[02] II. …der Letzte… 37:34

SACD 2 29:31

[01] III. …das Ende… 29:31

Vocalconsort Berlin
work in progress – Berlin
Gerhardt Müller-Goldboom, conductor
EXPERIMENTALSTUDIO des SWR

World Premiere Recording

Pressestimmen:

18.02.2014

Wo bleibt die Transzendenz?
Mark Andre komponiert das Geistige, über das andere noch philosophieren. Neue Aufnahmen machen mit einem Werk bekannt, in dem es manches zu entdecken gibt. – Gerhard Rohde

[…] Eine weitere Mark-Andre-Einspielung gilt dem 2004 bei der Münchner Biennale uraufgeführten Musiktheater “…22,13…”. Das historische Duell zwischen dem Schachweltmeister Kasparow gegen den IBM-Computer Deep Blue wird von Andre mit der Apokalypse in der Offenbarung des Johannes (Vers 22,13) verknüpft. Für Andre ein genuines Projekt, die Katastrophe menschlichen Denkens darzustellen. Seine Musik mit ihren dunklen Farben erreicht auch in der Aufnahme eine bannende Suggestion.

 


12/2011 – 01/2012

Ein funkelndes Universum der Klänge
Neue Musik auf neuen CDs . Vorgestellt von Max Nyffeler

Die Musiktheater-Passion “… 22,13 …” von Mark Andre, das Ereignis der Münchener Biennale 2004, liegt nun in einer Neuproduktion aus dem Berliner Radialsystem V auf einer SACD vor – eine Gelegenheit, sich das klanglich exponierte Werk unter technisch vorzüglichen Bedingungen erneut anhören.

Die Erinnerung täuscht nicht: Die kompromisslos harte Musiksprache mit ihren überfallartigen Ausbrüchen und den an der Hörschwelle angesiedelten Geräuschprozessen übt noch immer eine hohe Faszinationskraft aus.

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