Klaus Huber: Erniedrigt – Geknechtet – Verlassen – Verachtet …

17,99 

+ Free Shipping
Artikelnummer: NEOS 10809 Kategorie:
Veröffentlicht am: Mai 15, 2009

Infotext:

Befreiungsutopie und Heilsversprechen

In Klaus Hubers umfangreichem Werk gibt es mehrfach Knotenpunkte, in denen eine längere Schaffensphase zum Abschluss kommt und eine neue sich ankündigt. Markiert werden sie jeweils durch ein großes, vokal-instrumentales Werk. Solche Marksteine waren Anfang der 1960er Jahre das Augustinus-Oratorium Soliloquia und 2001 das Bühnenwerk Schwarzerde. Und genau dazwischen, um 1980, entstand das politische Oratorium Erniedrigt – Geknechtet – Verlassen – Verachtet…

In diesem Werk brachte Huber seine langjährigen Bestrebungen um eine neue Art von politisch engagierter Musik zu einem vorläufigen Höhepunkt und Abschluss. Seine Textvorlagen sind realistische Aufzeichnungen aus Arbeitswelt, Slum und Gefängnis, ergänzt durch Auszüge aus den Schriften des nicaraguanischen Priesters und Politikers Ernesto Cardenal, einem der damaligen Wortführer der lateinamerikanischen ›Theologie der Befreiung‹. Cardenals Texte bilden den gedanklichen Mittelpunkt des Werks.

Religiöse und politische Ideen verbinden sich in diesem Oratorium zur künstlerischen Vision einer Menschheit, die sich selbst aus ihren Fesseln befreit und das Schicksal in die eigene Hand nimmt; Mitleid mit den Unterdrückten, Aufruf zum politischen Widerstand und Transzendenzversprechen gehen eine unverwechselbare Mischung ein – eine christlich-sozialistische Utopie ganz im Sinne von Cardenal und seinen Glaubensgenossen. In Hubers Werk wird diese Botschaft aber nicht einfach als verbaler Appell formuliert, sondern sie durchdringt die Musik bis in ihre innerste Faser. Bedeutungsgehalt und Lautgestalt der Texte werden in charakteristische Strukturen transformiert und bringen so die Musik selbst zum Sprechen. Sie wird zum weithin hallenden Resonanzraum der revolutionär-eschatologischen Botschaft.

Der Kompositionsprozess erstreckte sich über mehrere Jahre. Der älteste Teil des siebenteiligen Werks ist das 1975 uraufgeführte Kammermusikwerk Senfkorn, das Huber in unveränderter Form in sein Oratorium einbaute; alles andere entstand 1978–82, letzte Ergänzungen fielen in das Jahr 1983. In einer ersten Fassung wurde das Werk am 11. Juni 1981 in Amsterdam unter Ernest Bour uraufgeführt; der dritte Teil (Gefangen, gefoltert…) existierte damals nur in einer vorläufigen Version, die der Sprecher/Sänger Theophil Maier als schlagzeugbegleitete Lautkomposition vortrug. Die integrale Uraufführung erfolgte am 14. Oktober 1983 in Donaueschingen unter Matthias Bamert.

Die sieben Teile, so unterschiedlich sie in Besetzung und Machart sind, fügen sich auf wirkungsvolle Weise zu einer zerklüfteten Großarchitektur zusammen. Das Stück durchläuft gedanklich einen Prozess von der Darstellung äußerster Unfreiheit über den Kampf gegen die Repression bis zur mystisch verklärten Apotheose von Freiheit.

Beginn (Um der Unterdrückten willen) ist ein Moment der größten Komplexität und zugleich der größten Entfremdung. Textgrundlage ist die realistische Beschreibung des Produktionsprozesses aus der Sicht des Gießereiarbeiters Florian Knobloch. Der Text wird kompositorisch gleichsam durch eine Häckselmaschine gejagt; der seriell komponierte Instrumentalpart ist in sieben Gruppen aufgeteilt, die in unterschiedlichen Tempi spielen und durch drei Dirigenten koordiniert werden. In dieser komplexen Organisation wird der Arbeitsprozess zur monströsen Maschinerie, die das Individuum zermalmt. Einige Zeilen aus dem Psalm 21 kommentieren zum Schluss choralartig das Inferno.

Teil II (Armut, Hunger, Hunger…) bringt eine Milieuschilderung aus einem brasilianischen Slum, wiederum aus der Sicht der Betroffenen. Die Zeilen aus dem Tagebuch der Carolina María de Jesús werden kombiniert mit Auszügen aus dem politischen Poem Oráculo sobre Managua (Orakel über Managua) von Ernesto Cardenal. Zur tristen Alltagsbeschreibung erklingt eine ›musica povera‹, die Assoziationen von Leere, Armut, Stillstand, Abfall usw. wachruft.

Der Text zu Teil III (Gefangen, gefoltert…) stammt aus den Prison Letters des schwarzen US-Amerikaners George Jackson. Die erregte Anklage der Haftbedingungen verarbeitet Einflüsse aus der afroamerikanischen Kultur: Bruchstücke von Arbeitsgesängen und ›Prison Songs‹ aus den Südstaaten, die zu einem mosaikartigen Ganzen zusammengefügt werden.
Nach diesen drei Protokollen von passiv erfahrener Unterdrückung erfolgt in Teil IV (Steht alle auf, auch die Toten!) der Umschlag in die Aktion. Der Kampf zwischen zwei Gewaltpotenzialen – zwischen anarchisch entfesselter Volkswut und militärisch geordneter Repressionsmaschinerie – spitzt sich in mehreren Wellen zu, bis die repressiven Strukturen schließlich einer klanglichen Vision von Freiheit weichen.

Teil V (Senfkorn) ist der introvertierte Ruhepunkt nach dem Sturm, in dem die schwachen Kräfte der Hoffnung sich erstmals ungehindert artikulieren. Motivmaterial aus der Bass-Arie »Es ist vollbracht« aus Bachs Kantate Nr. 159 setzt sich langsam zum tonalen Originalsatz zusammen, während eine Knabenstimme die Friedensvision aus Jesaja 11 und Verse aus einem Psalm von Cardenal rezitiert: »Die neuen Führer werden Pazifisten sein und Frieden machen…«.

Teil VI, beruhend auf Cardenals Gedicht Amanecer (Tagesanbruch), evoziert nach Hubers Worten »die in äußerster Ferne aufleuchtende Ferne des Friedensreiches«. Die verhaltene Bewegung in diesem Klangtableau entsteht durch langsames Vertauschen der Akkordtöne; Vokal- und Instrumentalklang verschmelzen, klingende Signale menschlicher Aktivität und Vogelrufe beleben die Oberfläche.

Teil VII, über Worte von Ernesto Cardenal »Das Volk stirbt nie / lächelnd tritt es aus der Leichenhalle…«, stellt eine Profanversion von Auferstehung dar. Intoniert wird sie in vier Choralzeilen, deren Material aus dem Bach-Choral Christ lag in Todesbanden abgeleitet ist. Durch Überlagerung und Playback vom Tonband entsteht ein Prozess der Verdichtung, und durch zunehmende Diffusion des Klangs öffnet sich der Raum zugleich ins Grenzenlose. Die Musik verdämmert in mystischer Ferne.

Max Nyffeler

Programm:

Erniedrigt – Geknechtet – Verlassen – Verachtet …
(1975/1978–83)
for solo voices, chorus, orchestra and tape
Texts by Ernesto Cardenal, Florian Knobloch, Carolina María de Jesús, George Jackson

[01] Vorspruch 03:42
[02] I Um der Unterdrückten willen 10:20

[03] II Armut, Hunger, Hunger… 12:49
[04] III Gefangen, gefoltert… 08:30
[05] IV Steht alle auf, auch die Toten! 11:13
[06] V Senfkorn 07:26
[07] VI Tagesanbruch 06:08
[08] VII Das Volk stirbt nie  07:37

total time: 67:58

Anne Haenen, mezzo-soprano
Theophil Maier, tenor and speaker
Paul Yoder, bass baritone
Treble solo from the Tölzer Knabenchor

Schola Cantorum Stuttgart
Clytus Gottwald, rehearsals
SWR Vokalensemble Stuttgart
Helmut Franz, rehearsals

SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg

Matthias Bamert, conductor
Kenneth Jean/ Burkhard Rempe/ Arturo Tamayo, co-conductors

Sound directors: Klaus Huber/ Peter Linke/ Dieter Mack/ Bernhard Mangold-Märkel

Tape parts: Electronic Studio of the Sweelinck Conservatory, Amsterdam (1981, Parts I & IV · Floris van Manen)
EXPERIMENTALSTUDIO des SWR (1983, Parts I–II & V–VII · Hans-Peter Haller, Rudolf Strauss, Arthur Kempter)

Pressestimmen:


04/2010


03/2010


01-02/2010

I’ve come to realize that there is a specific musical genre that emerged in the second half of the 20th century in Europe, the politico-metaphysical oratorio. These are sprawling modernist works, usually based on secular subjects, but laced with meditations on the spiritual or philosophic (even if in the end they are discredited or abandoned). These pieces tend to involve theatrical elements, and the vocal delivery spans a range from atonal bel canto to Sprechstimme to full-throated screaming/barking. I’ve encountered and reviewed several of these by Nono, Lachenmann, and B. A. Zimmerman over the past few years. It’s a form that I have some trouble with, which I’ll detail below. The arrival of the massive work by Klaus Huber (b. 1924), Erniedrigt—Geknechtet—Verlassen—Verachtet (“Abased—Fettered—Abandoned—Despised”), composed in 1975–83, alerted my radar that this might not be a particularly pleasant experience (the title alone promises a rigorous evening’s entertainment).

I have heard very little of Huber’s music, but his reputation in Europe is extremely high, and above all, he’s renowned as the teacher of several generations of major composers, mostly at his post in Freiburg, Germany (from which he’s now retired). The work under review is in seven sections with an introduction, and is a compendium of texts primarily from the “liberation theologist” Ernesto Cardenal, but there are many others woven in, including that of Black Panther George Jackson. The overall tone of the work is that of outrage at political oppression and injustice, motivated by a Protestant religious fervor.

I can say at the beginning what deflates me about the music, but stay with me; a more rounded picture is going to emerge by the end. There is a lot of angst throughout, and the tone is entirely humorless. (The one inadvertently funny thing is the echt-German delivery of the letters of George Jackson, albeit in English.) One can’t help but feel that high German Expressionism, when mated with a Calvinistic view of man, indeed a rather omniscient judgment of human inhumanity, leads to a wrenching, indeed abrasive product. It can also seem condescending, preaching on high to the rest of us fools. This music is never fun, but then Huber is absolutely determined it should not be, as the subject is so serious and depressing. So in a sense it is exactly what it intends to be, and it’s up to us as listeners to decide how to react to it.

Having said that, I need to pull back and add a little perspective. I came to this piece with an admittedly skeptical perspective, and certainly much of it did not disappoint my expectations. But Huber actually has a number of things going for him, and, in fact, this piece strikes me as one of the best I’ve heard in the aforementioned genre. The opening, with the distant voices of choristers sounding like muffled torture victims screaming from their cells (the work uses pre-recorded parts effectively) is chilling. And over its course, the music frankly gets better, asserts more personality, and transcends at least somewhat the clichés of its medium. The fourth section, with its outbursts of quasi-chaotic Ivesian band music, alternating with what sounds like thousands of marching boots, gathers real force. The fifth section, a deconstruction and then reassembly of a Bach aria, has a haunting fragility. And the conclusion, with its huge waves of voices and instruments, which transform into a taped version that slowly echoes into silence over several minutes, makes a deep impression.

The upshot is that Huber actually makes something of worth here, and his subject is well served. (I’ll also say that while as an American I’m not fond of being lectured by Europeans on our failings as a culture, I share many of his opinions and concerns.) Nor is the piece nihilistic or totally despairing, as much of it suggests the enormous force of the people’s will, and by such representation creates some hope of it being activated for positive results.

So this is a recommendation, almost despite myself. The recording is clear and the performance strong. While all the texts are printed, they are multilingual, and without translation, so non-readers of German, Spanish, and Portuguese will be out of luck.

Robert Carl

Tages-Anzeiger
23.11.2009


09.09.2009

Dem Frieden eine Stimme verleihen

Klaus Huber gehört zu den Komponisten, dem erst spät die Achtung zuteil geworden ist, die ihm gebührt. In diesem Jahr wurde ihm der Ernst von Siemens Musikpreis verliehen, und nicht wenige fragen sich, warum seine Meisterschaft erst so spät erkannt wurde, gehört doch Klaus Huber zu den wachen Komponisten, die äußerst sensibel auf ihre Zeit reagieren, ohne sich den Gesetzen des Marktes anzupassen. Vielleicht liegt es daran, dass ein griffiger Personalstil bei Huber schwer zu lokalisieren ist. Das Etikettendenken unserer Zeit verlangt nach griffigen Schlagwörtern, mit denen Schubladen zu füllen sind, und eine eindeutige Einordnung lässt Hubers Musik nicht zu. Seine Sprache richtet sich nicht nur nach dem Sujet, die sie behandelt, sie bleibt auch kompromisslos experimentierfreudig, so dass er auch in hohem Alter, wo andere ihre Errungenschaften in einem Spätwerk hegen und pflegen, stets neues Material findet und sich verfügbar macht. Erst kürzlich hat er dies in seinem monumentalen Bekenntniswerk ‘Quod est Pax – Vers la raison du coeur’ in Donaueschingen erneut bewiesen.

Überhaupt sind es oft jene bekenntnishaften Vokalwerken von großem Ausmaß, die Meilensteine oder Wendepunkte in den Schaffensphasen von Klaus Huber markieren. Dazu zählt ohne Zweifel das groß angelegte Oratorium ‘Erniedrigt – Geknechtet – Verlassen – Verachtet…’ für Stimmen, Chor, Orchester und Tonband, das 1983 vollendet und uraufgeführt wurde. Ein Mitschnitt dieser Aufführung in Donaueschingen ist jetzt in einer schönen Edition bei NEOS erschienen.

Das Werk ist gewissermaßen ein Pendant zu Luigi Nonos ‘Prometeo’. Entstanden in einer Zeit, in der sich das Scheitern der Vision einer anderen Gesellschaft abzeichnete, weisen beide Komponisten mit ihrer Musik in eine offene Zukunft und zu einer befreiten Menschheit hin, ohne dogmatische Parolen, sondern mit einer messianischen Offenheit hinein ins Unbekannte der Nacht. In ‘Erniedrigt – Geknechtet – Verlassen – Verachtet…’ ist es der fünfte Teil, ‘Senfkorn’ betitelt, in dem eine schwache Vision von einer Insel des Friedens aufleuchtet. Motive aus der Bass-Arie ‘Es ist vollbracht’ von Johann Sebastian Bach erinnern an das christliche Versprechen von menschlicher Wärme und Frieden für alle Menschen, eine Erinnerung, die gleichzeitig Vision für die Zukunft sein soll.

Hubers Oratorium beginnt mit der Darstellung des geknechteten Menschen. Texte, Originalberichte aus der Welt der Produktion, der Gefängnisse und Slums, bilden die Grundlage der Komposition, hinzu kommen Auszüge aus Schriften des Befreiungstheologen Ernesto Cardenal, die den geistigen Mittelpunkt des Werkes bilden. Die Musik entsteht aus dem semantischen Material: So ist der erste Satz ein Tableau von höchster Komplexität, der Text wird zerhackt, die Musik besteht aus verschiedenen seriellen Schichten in unterschiedlichen Tempi, die von drei Dirigenten koordiniert werden, so dass eine gigantische Maschinerie entsteht, in der kein Platz ist für das individuelle Schicksal des Menschen.

Demgegenüber steht im zweiten Teil, der die Armut brasilianischer Slums beschreibt, eine entkleidete Musik, in der kein Platz mehr für klanglichen Reichtum ist. Die Haftbedingungen, die der dritte Teil des Oratoriums mit den ‘Prison Letters’ des Afroamerikaners George Jackson anklagt, werden durch Klänge, die allesamt aus der amerikanischen Hymne abgeleitet sind, drastisch verdeutlicht: Huber konstruiert aus dem harmonischen Material der Hymne Vierteltonakkorde, die wie Gefängnisstäbe die Musik einpferchen.

Hubers Musik begnügt sich nicht mit der Anklage der grausamen Zustände sondern evoziert eine Vision von Frieden und Freiheit: nach dem Wendepunkt im ‘Senfkorn’ breitet sich die ‘Ferne des Friedensreiches’ aus, mit Material des Bach-Chorals ‘Christ lag in Todesbanden’ und klingenden Zeugnissen von Mensch und Natur, die sich vom Tonband mit der Musik vermischen.

Zwei Chöre, die Schola Cantorum Stutttgart und das SWR Vokalensemble, das Sinfonieorchester des SWR, vier Solisten und ein elektronisches Tonband verleihen dem formal und klanglich hochkomplexen Werk zahlreiche individuelle Stimmen. Vier Dirigenten und Klangregisseurs kümmern sich um die Koordination von Musikern und Tonband. Dass das Experiment gelungen ist, zeigt diese Aufnahme, mittlerweile schon ein historisches Dokument. Trotz aller Historizität ist Hubers Werk heute aktueller denn je: die Vision, der er durch die Musik Ausdruck verleiht, ist noch weit davon entfernt, reale Gegenwart zu werden.

Paul Hübner

Interpretation: 
Klangqualität:  
Repertoirewert: 
Booklet: 


03.07.2009


05/2009

Auszeichnungen & Erwähnungen:

Infopaket für Presse und Vertriebe »
(ZIP-Archiv, 1,7 MB)

Artikelnummer

Brand

EAN

Warenkorb

Die Website dient ausschließlich Demonstrationszwecken und ist mit der Neos Music GmbH abgesprochen.

X