Klaus Huber: …à l’âme de descendre de sa monture et aller sur ses pieds de soie… / Metanoia

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Artikelnummer: NEOS 11220 Kategorie:
Veröffentlicht am: Oktober 19, 2012

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KLAUS HUBER

…à l’âme de descendre de sa monture et aller sur ses pieds de soie…
Kammerkonzert für Violoncello solo, Baryton solo, Altstimme, Akkordeon und Schlagzeug (2002/2004)

»Unser Blick auf die Welt ist verschoben.
Wir schielen alle. Das Auge schielt. Das Ohr schielt.
Und unser Denken ist durch einen übermächtigen Magneten abgelenkt.
Wachstum, Wachstum über alles. Der totalitäre Markt.«
Klaus Huber, 29. April 2002

In meinem Beitrag zur Festschrift 75 Jahre Donaueschinger Musiktage schrieb ich: »Soziologen analysieren: Weit über sechzig Prozent der musikkulturellen Reproduktion heutiger Gesellschaften geschieht auf virtuelle, indirekte, digitalisierte und ständig weiter manipulierte Weise. Hierfür ist der absolute Glaube an die Quantifizierbarkeit aller – auch der menschlichen – Werte unerlässliche Voraussetzung. Statistik ist die unangefochtene Herrscherin, die schließlich alles – fast alles – im Rachen des Konsums verschwinden lässt, mit beträchtlichen Gewinnen für allzu wenige … Das ›Verschwinden der Wirklichkeit‹, die im multimedialen Zeitalter mehr und mehr gegen virtuelle Wirklichkeiten eingetauscht wird, führt paradoxerweise keineswegs zur gleichzeitig eifrig propagierten ›superindividuellen‹ Freiheit, sondern geradewegs zu immer mächtiger sich entfaltenden Manipulationspotentialen. Fazit: Die Verdinglichung des Menschen und damit zwangsläufig auch seiner Künste schreitet unaufhaltsam voran.« (siehe auch: Klaus Huber, Umgepflügte Zeit, Schriften und Gespräche, MusikTexte, Köln 1999)

Je tiefer wir in die Potentiale der Musik als Kunst eindringen, desto deutlicher zeigt sich, dass Musik ohne Transzendenz keinen Bestand hat. Noch drastischer als in anderen Künsten stellt sich in ihr die Frage: Was ist »außen«, also materialisierbar, was ist »innen«, also erlebbar, ohne materiell zu sein. In ihren tiefsten Wurzeln ist sie aber immer so etwas wie eine reale Darstellung von Welt im Medium ihrer Zeitlichkeit. […]

In den zwölf Jahren meiner Beschäftigung mit arabischer Musik und besonders ihrer klassischen Musiktheorie begleitete die Auseinandersetzung mit dem Sufismus meinen Weg. Dabei stieß ich auf eine Ode des epochalen Universalgelehrten Ibn Siná-Avicenna, in welcher er Weg und Schicksal der menschlichen Seele in mystischen Bildern zeichnet und philosophisch erörtert. Man bedenke, Avicenna, der frühe Aufklärer um die erste Jahrtausendwende, fand keinen Widerspruch darin, sufistische Ganzheitserfahrung der Schöpfung in einer Ode zu besingen, die den existenziellen Weg der menschlichen Seele beschreibt.

Ernst Bloch griff Avicennas Fragestellungen als einer der ersten in einem Text von 1952 wieder auf, in welchem er auch die Bedeutung analysiert, die Avicennas und Averroës Philosophie für die Entfaltung abendländischen Denkens hatte: Avicenna und die Aristotelische Linke. (Edition Suhrkamp, 1963)

Wenn ich nun meine, wir abendländischen Künstler müssten – nicht nur in unserer Ästhetik sondern mit unserer ganzen Existenz – uns der eine breite Gegenwart beherrschenden Verdinglichungswelle entgegenwerfen, so stellt sich die Frage: Wie leisten wir einen rational verankerten, nicht gänzlich wirkungslosen ästhetischen Widerstand?

Jacques Derrida hat in seiner Frankfurter Rede bei der Überreichung des Theodor W. Adorno-Preises an ihn (2001) eine erstaunliche Aufwertung des Traum-Denkens vorgenommen. Derrida weist für den Traum eine hohe Rationalität nach, die jene des wachen Bewusstseins zu übertreffen vermag. Und das anhand einer Gedanken-Kette, die kein Geringerer als Walter Benjamin träumte und sorgfältig nachformulierte. Wäre es nicht an der Zeit, die innere, ganzheitliche Existenz des Menschen, das heißt seine Seele, als eine Wirklichkeit anzuerkennen, die ebenso rational auf das Weltganze bezogen ist wie alle äußeren Wirklichkeiten? Derrida hat hier einen ersten Schritt getan.

Ich komme auf Avicennas Ode zurück, die mich fortan nicht mehr losließ. Sie führte mich vom ursprünglichen Konzept eines Cellokonzertes bis hin zu dem Werk, das 2002 in Donaueschingen uraufgeführt wurde. Hatte ich, immer in der Nähe von Avicennas Ode, bereits die Solistenbesetzung erweitert, so unterbrach mich jetzt die Gegenwart.

Ich las im April 2002 ein bisher unveröffentlichtes Gedicht des palästinensischen Dichters Mahmoud Darwisch, das dieser im Januar 2002 im belagerten Ramallah niedergeschrieben hat. Seine Dichtung hat mich so tief berührt, dass sie mich von Avicennas Ode, die der konzeptuelle Hintergrund meiner Komposition geblieben ist, wegführte in die Gegenwart.
Für mich ist ebenso verblüffend wie bestätigend, wenn Darwisch – ob bewusst oder unbewusst – in einer zentralen Strophe seines Gedichts (»Die Seele muss vom Reittier steigen und gehen auf ihren Seidenfüßen«) unüberhörbar Avicennas mystische Tiefe erreicht – tausend Jahre später.

Auf Gegenwart reagierend, wie ich es nicht anders kann, hoffe ich, mit meinem Werk einen bescheidenen Beitrag zu leisten gegen die fortschreitende Verdinglichung des Menschen (samt seiner Seele…), zur Rettung des Menschlichen in einer Zeit, die sich anderen Zielen verschrieben hat. Und das im vollen Bewusstsein einer extrem brutalisierten Gegenwart, nicht nur in Palästina.

Klaus Huber

Das Werk ist eine Rekomposition/Reduktion von Die Seele muss vom Reittier steigen (UA Donaueschingen 2002), bzw. Reduktion von …à l’âme de marcher sur ses pieds de soie… (2004).

 

Metanoia für Orgel solo (1995)

Die Aufnahme von Metanoia wurde im Jahr 1997 in der Klosterkirche Neresheim mit Hans-Peter Schulz an der bedeutenden historischen Orgel von Johann Nepomuk Holzhey vom Süddeutschen Rundfunk produziert und bei der 1. Internationalen Woche für Neue Orgelmusik in Trossingen als Tonbandversion präsentiert. Die Uraufführung fand ein Jahr später, 1998, statt: am selben Ort mit dem selben Interpreten.

Der Titel des Stückes bezieht sich auf einen zentralen Begriff christlicher Tradition, wie ihn das Neue Testament überliefert: »μετανοεῖτε!«, d. h. »Kehrt um!« bzw. »Tut Buße!« – das wird als Aufforderung zu einer radikalen Neuausrichtung des ganzen Lebens verstanden. Das Utopische radikaler Umwendung erscheint als Ziel einer dauernden Bemühung, der man sich nicht entziehen kann, weil die Umkehr immer vor oder hinter dem Menschen liegt, nie aber in seinem Besitz.

Dieser Hintergrund bestimmt Struktur und klangliche Gestalt von Klaus Hubers Werk. Er schrieb: »Metanoia ist nicht ein Ergebnis von Reflexion, sondern ›schlägt senkrecht ein, wie ein Blitz‹«. Der Blitz des Ein- bzw. Umschlags zeigt sich schon in einer Skizze graphisch als Engelssturz, der die Komposition in zwei gänzlich verschiedene, ungleich große Hälften teilt: auf der einen Seite den ersten Teil, der in wellenförmigen Bewegungen und Turbulenzen eine Verdichtung und Intensivierung des Ton- bzw. Klangmaterials erzielen soll, auf der anderen ein Teil, den Klaus Huber selbst mit dem Begriff »Eintönigkeit« charakterisiert. Der Blitz selbst, der Umschlag ist nicht zu hören, denn der um den Zentralton as kreisende Schluss entwickelt sich aus dem Nachhall des lauten Schlusses von Teil 1.

Auch in Klaus Hubers Komposition …à l’âme de descendre de sa monture et aller sur ses pieds de soie… gibt es den zentralen Ton as, für den Komponisten der Ton der Liebe (sein Vater hatte diese Zuordnung in einer Doktorarbeit über Heinrich Schütz entdeckt). Durch die Mikrointervallik: Drittelton zu hohes, Drittelton zu tiefes und temperiertes as, die in unterschiedlicher Kombination gleichzeitig erklingen, entstehen sogenannte »battements«: Schwingungen.

Auch in Metanoia wird der Einfluss, der sich aus der Beschäftigung des Komponisten mit
arabischer Musik herleitet, hörbar: im 2. Teil schreibt Klaus Huber mikrotonale Veränderungen der Tonhöhen vor – eine besondere Herausforderung für die Orgel, deren Aufbau und Konstruktion dies eigentlich nicht zulassen. Die ungleich schwebende Stimmung der historischen Orgel von J. N. Holzhey dient der Komposition in dieser Hinsicht in idealer Weise.

Für …à l’âme de descendre de sa monture et aller sur ses pieds de soie… müssen in das Akkordeon eigens dafür gestimmte Zungen für die Mikrointervalle eingebaut werden.

Teresa Carrasco

Programm:

[01] …à l’âme de descendre de sa monture et aller sur ses pieds de soie… 31:41
Chamber concerto for violoncello solo, baryton solo, contralto, accordion and percussion (2002/2004)
Text: Fragments of a poem by Mahmoud Darwish

Walter Grimmer, violoncello
Max Engel, baryton
Katharina Rikus, contralto
Hugo Noth, accordion
Michael Pattmann, percussion

[02] Metanoia 28:48
for organ solo (1995)

Hans-Peter Schulz, organ

 

total time 60:43

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