Elliott Sharp: Orchestra Carbon – LARYNX

17,99 

+ Free Shipping
Artikelnummer: NEOS 40704 Kategorie:
Veröffentlicht am: August 30, 2007

Infotext:

Elliott Sharp: Orchestra Carbon – Larynx

Larynx ist eine Analogiebildung; das Orchester als Kehle. Ein Umkehrschluss aus der Tatsache, dass die Kehle auch ein Orchester sein kann: so in den Kehlengesängen der Inuit in der kanadischen Arktis, in den Khöömej-Gesängen der Mongolei, oder auch in der entfernt verwandten Mundhöhlen-Technik der Maultrommel, die man man überall auf der Welt findet. Die Naturtonreihe ist die melodische Basis für viele dieser Musiken – und für weite Teile von Larynx.

Für die Stimmung der Streicher, Blechbläser, Slabs, Pantars und der Doppelhals-Bassgitarre leite ich Zahlenverhältnisse aus der Fibonacci-Folge ab; aus ihr bekomme ich auch melodisch-harmonisches Material für diese Instrumente und rhythmisches Material für das ganze Ensemble. Für Inspiration und weiteres Basis-Material sorgen Gedanken aus der fraktalen Geometrie. Ich knüpfe hier an Ordnungssysteme an, die ich schon in Stücken wie Marco Polo’s Argali, Self-Squared Dragon oder Tessalation Row verwendet habe. In einem vorgegebenen Abschnitt sollen einige der Musiker ausschließlich diese Systeme auswerten, und andere sollen gleichzeitig ihre ganz individuellen Spielweisen entwickeln. Koordinierte Improvisationen werden übereinandergelegt und mit auskomponierten Passagen verflochten – so können die Spieler das vorgegebene Material erweitern und auch frei kommentieren.

1985 erfuhr ich durch einen Artikel im Scientific American von Benoît Man-delbrot und seiner fraktalen Geometrie, für die ich mich von da an immer mehr begeisterte. Es sprach mich an, wie Mandelbrot die Kurven von mathematischen Funktionen auf Naturphänomene wie Turbulenz, Chaos oder scheinbare Zufäl-ligkeit bezog, und ich spürte: eine »ideale Musik« könnte auch etwas mit einem Durchdenken dieser Formen und Phänomene zu tun haben. Als ich auf meinem Atari-ST-Computer eine Entdeckungsreise durch die vielen Regionen einer Julia-Menge machte, glaubte ich ein Bildnis der Zeit anzuschauen – überhaupt nicht linear, sondern zerklüftet, mit Netzformen und Schleifen.

Für das Album Fraktal (1986) begann ich Stücke zu konstruieren, die lose mit verschiedenen Aspekten der fraktalen Geometrie verbunden waren. In jedem Stück gab es ver-änderliche Strukturelemente und koordinierte Improvisation, gab es Schichten, in denen Ordnung und Chaos ineinandergriffen. Was ich in der Mathematik suchte, war eine Beschleunigung meiner Ideen, waren inspirative, anspielungs-reiche Impulse. Ich hatte kein Interesse daran, fraktale Tabellen anzulegen, um musikalisches Material künstlich herzustellen – das wäre mir zu mechanistisch, zu akademisch gewesen.

Damals habe ich auch zum ersten Mal – mit einem MIDI-Converter – den Gitarrenhals meines Doppel-Instruments (Gitarre/Bassgitarre) an einen Sampler angeschlossen. Ich sampelte Klänge, Klangver-läufe und Phrasen, die auf ungewöhnlichen Spieltechniken basierten – sie sollten den klanglichen Kern meiner Stücke bilden –, und ich benutzte den Klang selbstgebauter Instrumente; dadurch konnte ich in der fertigen Mischung eine Ebene von Rückschau und Wiederkehr bewahren und zugleich meine Klangfar-benskala fantastisch erweitern.

Ein wichtiges, ins Orchestra Carbon integriertes Ausdrucksorgan bei der Realisierung von Larynx, ist das Soldier String Quartet. Die rhythmische Durch-triebenheit dieser Vier und ihre Begeisterung für die besonderen Spieltechniken, die ich in der Komposition verlangte, machte die Arbeit mit ihnen zum Vergnü-gen. Ihre Instrumente wurden komplett auf Naturtöne gestimmt, nach den – aus benachbarten Fibonacci-Zahlen gewonnenen – Verhältnissen 1:1, 3:2, 8:5 und 5:3 (in etwa C, G, As und A).

Diese Stimmungen wurden auch auf die Slabs, Pantars und die Bassgitarre übertragen. Damit die Intonation während des lan-gen Stücks »rein« bleibt, werden auf all diesen Instrumenten nur leere Saiten mit den jeweiligen Obertönen gespielt. Ähnlich ist es bei den Blechbläsern, sie spielen die entsprechenden Pedaltöne plus Obertöne. (Trotzdem gibt es in Larynx auch freie Stellen, an denen die Spieler verschiedenste system-unabhängige Klänge produzieren dürfen.) »Slabs« sind horizontale Baßinstrumente mit einem verschiebbaren Steg in der Mitte der aufgespannten Saite und mit Tonabnehmern an beiden Enden.

Zum Spielen benutzt man leichte Metallstäbe mit Gummispitzen. Um Obertöne zu erzeugen, muss die bespielte Saitenhälfte von Hand gedämpft werden; auf diese Weise können zwei Personen an einem Slab spielen. Man kann Slabs auch mit einem Bogen streichen, oder Glissandi mit einem Bottleneck ausführen. Die »Pantars« sind Deckel von Metallfässern, jeweils ausgestattet mit vier stimmbaren Saiten, einem Tonabnehmer und einem Steg bzw. Resonator, der aus der Glocke eines Beckens herstellt ist. Pantars kann man zupfen, schlagen, streichen oder mit einem E-Bogen in Schwingung versetzen.

Larynx besteht aus sechs größeren Teilen und fünf Zwischenspielen. Im ers-ten und im letzten Teil spielen vier Schlagzeuger gemeinsam. In den Teilen dazwischen steht jeweils einer von ihnen als Solist im Mittelpunkt; die anderen spielen währenddessen Slabs oder Samples. Die Solo-Drummer in den Teilen 2 bis 5 sind: Noyes, Previte, Bennett und Linton. Jeder von ihnen hat seinen ganz eigenen Stil entwickelt; ich mag die Kontraste zwischen ihnen, und ich mag es, wie sie das auffassen, was ich als Komponist ausdrücke. Das gilt für alle Musiker im Orchestra Carbon. Ich gebe ihnen für die verschiedenen Teile des Stücks unterschiedlich genaue Anweisungen mit auf den Weg (das reicht von exakten rhythmischen oder spieltechnischen Vorgaben bis zu allgemeinen Gedanken in puncto Dichte und Struktur).

Planmäßig werden auf jeden Teil dieselben algo-rithmischen Spielregeln angewandt; sie schaffen – obwohl sie jedes Mal radikal unterschiedliche Klangstrukturen hervorbringen – doch so etwas wie Querver-weise. Man gelangt durch ein Zwischenspiel in einen neuen Teil – der Boden, auf dem man sich bewegt, ist anders, aber trotzdem erkennt man, dass der neue Ort von seiner Funktion her mit dem vorigen identisch ist. Wie in der mathematischen Topologie: Ein Torus (»Schwimmreifen«) ist ein Torus ist ein Torus. Die Zwischenspiele verbinden die Hauptteile, bilden aber auch einen eigenstän-digen Zyklus; darin werden nacheinander dieselben Verfahrensweisen auf Gruppen von Instrumenten angewandt, die deutlich unterscheidbar sind, aber gedanklich und strukturell ähnlich arbeiten können. In den Zwischenspielen hört man der Reihe nach: Blechbläser, Pantars, Streichquartett, Slabs, Bassgitarre.

Larynx entstand im Auftrag der Brooklyn Academy of Music für das Festival »Next Wave« 1987; die Komposition war im Juni abgeschlossen, kurz vor Beginn der Aufnahme-Arbeiten. Im BC Studio in Brooklyn (New York) wurde das Stück von Juni bis Oktober 1987 eingespielt und gemischt; Toningenieur war Martin Bisi. Die Realisierung erfolgte in einzelnen Schichten und Abschnitten. Mein Budget war stark eingeschränkt; ich bezahlte die Aufnahme aus eigener Tasche. Immer, wenn ich es mir leisten konnte, Spieler zu holen und für ein paar Stunden das Studio zu mieten, stellte ich einen Teil fertig oder fügte eine Ebene hinzu.

Die Musiker arbeiteten so gut wie ohne Kontext: Sie spielten über be-stimmte Passagen drüber, die ich zur Orientierung vorher aufgenommen hatte – mit meiner Doppelhalsgitarre oder als Bläser zusammen mit den Schlagzeugern. Wie ihre Partien mit denen der anderen zusammenhingen, das konnten die Mu-siker erst beim Hören der ganzen Einspielung nachvollziehen (sie war dann auch eine Hilfe für das Ensemble, als wir für die Live-Premiere probten). Erstmals erschienen ist die Studio-Einspielung 1988 bei dem bahnbrechenden kalifornischen Indie- / Punk-Rock-Label SST.

Bei der Aufführung in der Brooklyn Academy of Music (am 13./14. Novem-ber 1987) zeigte sich die ganz eigene musikalische Vitalität von Larynx – eine Kraft, die aus den inspirierten Beiträgen aller Mitwirkenden kam. Leichtfüßig bewegt sich die Musik auf der schwebenden Grenze zwischen einer Geometrie, die von der harmonischen Fibonacci-Folge herstammt, und einer fraktalen Geometrie der Turbulenz, des Chaos, der Unordnung. Streng geordnete Bausteine sind in ein dichtes Feld von vielseitigen Entwicklungen eingebettet. Überall im Stück befinden sich melodische Mikro-Strukturen gleichzeitig in Bewegung; sie beeinflussen sich gegenseitig, verbinden sich miteinander, springen heraus und zeigen sich offen.

Indem die Elemente sich verschieben, tauchen neue Land-schaften auf, und in ihnen kann die Entwicklung neue Richtungen einschlagen. Es ging mir nicht darum, stur meine musikalischen Parameter von fraktalen Ta-bellen abzuleiten oder mathematische Funktionen so zu behandeln, als seien sie Kunstprodukte. Die fraktale Geometrie, so wie ich sie benutze, soll ein geistiger Flammenwerfer sein, der konventionelle Vorstellungen von Struktur und Ent-wicklung wegbrennt – so dass es möglich wird, Larynx auch als ein Bündel von außermusikalischen Vorgängen wahrzunehmen. Es ist quasi ein klingendes Ho-logramm: Man kann es von verschiedenen Seiten hörend betrachten; die Teile und das Ganze enthüllen sich gleichzeitig in dem Moment, wo ihre Form und Funktion sich neu definieren.
(Aufzeichnungen von 1987, revidiert 2007.)

Übersetzung: Michael Herrschel

Programm:

Elliott Sharp Edition Vol. 3

Orchestra Carbon
LARYNX

[01] Larynx 1  07:07

[02] Larynx 2  05:56
[03] Larynx 3  06:05
[04] Larynx 4  06:38

[05] Larynx 5  04:10
[06] Larynx 6  09:16

total time  38:32

Performed by:
Samm Bennett, drums & percussion/Lesli Dalaba, trumpet & slab
David Fulton, trombone, slab, pantar/Ken Heer, trombone, slab, pantar/David Linton, drums
Charles K. Noyes, drums/Bobby Previte, drums/Jim Staley, trombone

Soldier String Quartet:
Laura Seaton, violin/David Soldier, violin
Ron Lawrence, viola/Mary Wooten, cello

Elliott Sharp: doubleneck guitarbass, soprano sax, tenor sax, bass clarinet, and sampler

Recorded and mixed at BC Studio, Brooklyn, New York, June–October 1987
Engineered by Martin Bisi

Published by zOaR – BMI – 1987
www.elliottsharp.com

Pressestimmen:


04/05.2008


03.2008


02/03.2008

Artikelnummer

Brand

EAN

Warenkorb

Die Website dient ausschließlich Demonstrationszwecken und ist mit der Neos Music GmbH abgesprochen.

X