Elliott Sharp, Bernhard Lang: Donaueschinger Musiktage 2007 – NOWJazz – War Zones

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Artikelnummer: NEOS 40808 Kategorie:
Veröffentlicht am: Oktober 15, 2008

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SZENARIEN DER ANGST
›War Zones‹ – ein Projekt von Elliott Sharp und Bernhard Lang bei den
Donaueschinger Musiktagen 2007

Es liegt Düsteres in der Luft. Zweifellos hat die verheerende Politik der USA unter George W. Bush zu einer Eskalierung der gegenwärtigen Weltsituation geführt. Der ungerechtfertigt angezettelte Irak-Krieg ließ die ohnehin schon tiefen Gräben zwischen den westlichen Industrienationen und der Dritten Welt noch unüberbrückbarer werden.

Und die Strategie des offenen Kampfs gegen die vermeintliche ›Achse des Bösen‹ erwies sich als gefährlicher Bumerang, der aufgebrachte Muslime in eine Art permanenten Guerillakrieg gegen die westliche Welt treten ließ, der sie dort trifft, wo sie sich am verwundbarsten zeigt: an den kommunikativen Schnittstellen des Kapitals.

Diese Eskalation der Gewalt, die Teile Europas und der USA immer wieder in unvorhersehbare ›Kriegszonen‹ verwandelt, einer Nation oder gar der Politik eines einzelnen Mannes anzulasten, griffe freilich viel zu kurz: Es sind vielmehr die sich unaufhaltsam ausbreitenden Mechanismen und inhärenten Widersprüche des Kapitalismus, die die Schere zwischen den Industrieländern und der Dritten Welt täglich breiter werden lassen und dadurch zum geheimen Motor jenes religiösen Fanatismus werden, in dem die Gewalttäter eine Art göttliche Legitimation zu erhalten glauben.

Gewaltbereitschaft macht sich aber nicht nur bei Vertretern der zunehmend ärmer werdenden Länder breit, sondern auch bei jenen der reichen Industrienationen. Hier ist es eine meist jugendliche Stadtguerilla, die ihren Frustrationen in immer brutaleren und irrational fremdenfeindlichen Aktionen Luft macht. Dass der ›Industrialismus die Seelen versachlicht‹, hatten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno bereits in den 1940er Jahren in ihrer Dialektik der Aufklärung konstatiert. Nun ist dieser Prozess offenbar so weit fortgeschritten, dass sich im blinden Hass selbst unmittelbare Nachbarn oder Kommilitonen in Schulen zu entseelten Dingen reduzieren lassen, die wahllos abgeknallt werden können.

Auf solch bedrohliche Entwicklungen reagiert die Kunst. Freilich nicht, indem sie sich offen politisiert und somit derselben Werkzeuge der Herrschaft bedient wie die Mächtigen. Sondern indem sie versucht, strukturelle Momente des Herrschaftsdenkens zu reflektieren und – in welch mittelbarer Form auch immer – in ihren Werken zu verarbeiten. Auf solch seismographische Weise begegnen auch die beiden im Auftrag der Donaueschinger Musiktage 2007 entstandenen Werke dieser CD den politischen Entwicklungen der Gegenwart.

Weshalb Ripples From The Bang von Elliott Sharp, dem aus New York stammenden Komponisten, Gitarristen, E-Bassisten und Bassklarinettisten, und Paranoia von Bernhard Lang, dem aus Österreich stammenden Komponisten und Keyboarder, bei der Donaueschinger NOWJazz Session unter dem Übertitel War Zones zur Uraufführung gelangt waren.

Freilich verwahren sich sowohl Sharp als auch Lang dagegen, ihre Stücke als unmittelbare politische Manifeste zu verstehen. Würde Kunst zum Pamphlet, dann verlöre sie jene Autonomie, die sie dazu befähigt, legitime Kritik am Bestehenden zu üben. Deshalb versuchte Elliott Sharp auch, die Probleme von einer weit fundamentaleren Ebene aus zu betrachten. Seine Ripples From The Bang – was im Deutschen etwa ›Schallwellen des Urknalls‹ bedeutet – lassen sich als Reflexionen über das Kausalitätsprinzip verstehen.

Warum, so fragen sich Sharp und seine Textdichterin LaTasha N. Nevada Diggs, resultiert aus einer Kette in sich logischer kausaler Verknüpfungen dann doch wieder eine unvorhersehbare Wirkung? Warum lässt sich – darüber hinaus – ein und dieselbe Abfolge von Ursachen und Wirkungen auf ganz verschiedene Weise deuten, je nachdem aus welcher Perspektive und mit welchem Wissensstand man sie betrachtet?

Gefragt ist folglich eine Vielzahl verschiedener Perspektiven, die schon Adam Smith im 18. Jahrhundert mit seinem Empathieprinzip gefordert hatte. Elliott Sharp macht sich kompositorisch diese Perspektivwechsel zunutze, indem er auskomponierte Teile und vorbereitete elektronische Soundfiles mit freien improvisatorischen Passagen in seinem breitflächig angelegten Stück einander abwechseln lässt.

Bernhard Lang wiederum knüpft an die politischen Implikationen seines 2007 in Schwetzingen uraufgeführten Musiktheaters Der Alte vom Berge an, das die Mentalität von zu Killern gedrillten Kindern umkreist. Auch er nähert sich der Thematik mittelbar, indem er die in Paranoia verwendeten, 1954 zum Sturz der demokratisch gewählten Regierung Guatemalas ausgearbeiteten ›CIA-Protokolle über politische Morde‹ von stichwortartigen Resultaten einer Internet-Recherche und von Schlagworten aus Inhaltsverzeichnissen der Zeitschrift ›Paranoia‹ umranken lässt, die von den beiden Rappern überdies nur in Auszügen improvisatorisch eingesetzt werden.

Wie das Stück Elliott Sharps operiert Paranoia mit kompositorischen Modulen, aus denen Improvisationen herausentwickelt werden. Das Loop-Szenario, das nicht nur Philip Jeck an den Turntables, sondern auch die sechs Instrumentalisten spielten, signalisiert in seiner Struktur jene ›Wiederkehr des Gleichen‹, die schon Friedrich Nietzsche als fatales Signum der von Herrschaft bestimmten Menschheitsgeschichte bezeichnet hatte. Und in den kontrapunktierenden Stimmen der beiden Rapper spiegelt sich – transformiert ins Poetische – wohl auch jene Paranoia der Angst, die hinter der Fassade wohlhabender Bürgerlichkeit unsere Zivilisation zu zerreißen droht.

Reinhard Kager

 

BERNHARD LANG ÜBER ›PARANOIA‹

Paranoia ist eine Sequenz von acht semi-improvisatorischen Blöcken, die aus den Skizzen zum III. Akt des Musiktheaters Der Alte vom Berge extrahiert und weiterentwickelt wurde. Drei Textgruppen liegen zugrunde:

– ›Justifications‹, ein Cut-up aus einer Internet-Recherche über Paranoia als politische Funktion.
– Die ›CIA Protocols Of Political Assassination‹, eine Sammlung von verschiedenen Strategien für politische Morde.
– Die Inhaltsangaben des amerikanischen Magazins ›Paranoia‹.

Die Improvisationen basieren auf gescratchten Loops und ›Damage Beats‹, die Referenzen zum Turntablismus von Phil Jeck und zu den Filmen von Martin Arnold herstellen sowie zu meiner Kompositionsserie Differenz/Wiederholung. Die beiden Stimmen liegen kontrapunktisch als improvisierte Rap-Poesie über dem Loop-Szenario.

Das Stück wurde durch das Buch Conspiracy Nation: The Politics Of Paranoia In Postwar America (hrsg. von Peter Knight) angeregt: Paranoia als neues Lebensgefühl, Paranoia als politisches Instrument.

 

ELLIOTT SHARP ÜBER ›RIPPLES FROM THE BANG‹

Ripples From The Bang ist eine Reihe von Reflexionen über Kausalität. Wie wir eine Kette von Ereignissen wahrnehmen, ist immer extrem persönlich gefärbt und variiert stark, was mitunter abhängig von Faktoren ist, die jenseits unserer individuellen Sichtweise liegen. Diese Ereignisse können Privatreisen, Kriegszustände oder auch verheerende Katastrophen von kosmischen Ausmaßen sein.

Die Partitur, welche die Musikerinnen und Musiker auf diesen ›Schallwellen des Urknalls‹ surfen lässt, beinhaltet durchkomponierte Teile, algorithmische Strategien, graphische Anweisungen, vorbereitete elektronische Soundfiles und Improvisationen.

Programm:

Donaueschinger Musiktage 2007
SWR2 NOWJazz
WAR ZONES

Elliott Sharp (*1951)
[01] 23:54 Ripples From The Bang (2007)

World Premiere – Work commissioned by SWR

Bernhard Lang (*1957)
[02] 39:48 Paranoia (2007)

World Premiere – Work commissioned by SWR

total time 63:46

LaTasha N. Nevada Diggs, text & vocalist
mixmastertodd, vocalist
Philip Jeck, turntables
Hans Koch, reeds
Bernhard Lang, keyboard/electronics
Elliott Sharp, guitar/electric bass/electronics
Fredy Studer, drums/percussion

Pressestimmen:


2/2009


11.12.2008

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