Claus-Steffen Mahnkopf: Piano Works

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Artikelnummer: NEOS 11207 Kategorie:
Veröffentlicht am: April 9, 2012

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KLAVIERWERKE

In Rhizom. Hommage à Glenn Gould kommen zwei Ideen zusammen, eine klanglich-spieltechnische und eine satztechnisch-semantische. Die Genialität von Glenn Goulds Klavierspiel liegt vordringlich darin, das Klavier konsequent als »punktualistisches« Instrument anzusehen, bei dem ein Ton, ist er einmal angeschlagen, nicht mehr manipulierbar ist, weil er rasch verklingt. Daher sind die verschiedenen Grade von »molto legato« bis »staccatissimo« für die Klangfarblichkeit und damit für die Unterscheidbarkeit der polyphonen Faktur entscheidend, weswegen aber das Klangbild nicht durch den Pedalgebrauch verwischt werden darf. Daher ist der Einsatz des (rechten) Pedals in Rhizom höchst sparsam. Zugleich werden alle übrigen pianistischen Errungenschaften Glenn Goulds in die organisatorische und morphologische Struktur meines Stücks einbezogen. Die Idee für Rhizom war, die Polyphonie derart voranzutreiben, dass die Ausdifferenzierung der beteiligten Ereignisschichten (in diesem Falle: 13) zu einer in sich schizophrenisierten Gleichzeitigkeit nicht nur von Verschiedenem, sondern von verschiedenen Zeitebenen mit divergierenden Ereigniskomplexen führt. Gilles Deleuze und Félix Guattari haben dafür den Titel eines rhizomatischen Labyrinths vorgeschlagen. Unter komplexer Polyphonie verstehe ich, dass gleichzeitig, d. h. in einer wie immer zusammengezwungenen Form völlig Gegensätzliches, mitunter Überlappendes, netzwerkartig Verknüpftes mit mehr unterirdischen Verweisungszusammenhängen in eine Werktotalität gebannt ist, ohne gleichwohl eine Expressivität zu entbehren, die in diesem Falle eher »formativ« ist und weniger sich an die Eigenbedeutungen der Einzelheiten bindet, sondern aus Kräften zwischen dem Heterogenen besteht. Diese Art von »komplexistischer« Gedrängtheit bedeutet ein gleichzeitiges Zusammenprallen dessen, was üblicherweise nacheinander folgt. Die kompositionstechnische Frage bei Rhizom war dabei, wie weit das Material und die dafür vorgesehene Technik polyphonisch getrennt sein müssten, damit Polyphonie allererst entstehen könne, ohne allerdings auf der anderen Seite die Einheit des stilistischen Vokabulars zu zerstören. In Rhizom ging ich so weit, dass jeder der 13 Schichten – Vektoren, die zeitlich gerichtet und wie Mikadostäbe scheinbar wirr im (semantischen) Raum verteilt sind – nicht nur eigenes morphologisches Material, sondern zugleich eine eigene Kompositionstechnik zugeordnet sind. Somit ist nicht nur die Satztechnik, sondern sogar die Kompositionstechnik insgesamt polyphon organisiert. Diese »schizothyme Organik« sehe ich als expressivistische Reaktion auf die »Verfassung« der heutigen Innerlichkeit in einer zunehmend »disseminativen Polypluralität«. Es obliegt letztlich dem Hörer, den eigenen, höchst individuellen Weg durchs Labyrinth zu finden, das die Aufgabe hat, nicht etwa den Ausgang, sondern sich selbst zu suchen.

Die 5 kleinen Lakunaritäten bilden ein kleines, aus mehreren Sätzen zusammengesetztes Werk. Mich interessierte die fraktale Geometrie von Benoît Mandelbrot und dabei vor allem die löcherigen Phänomene (ich hatte mich bereits mit succolarity für Flöte damit beschäftigt und sollte mich mit Trema für Schlagzeug wieder damit beschäftigen). Ich entschied mich für fünf Sätze, um eine plakative Anspielung auf Schönbergs op. 19 zu vermeiden. Jeder Satz repräsentiert eine Ausprägung von Lakunarität gemäß der fraktalen Geometrie – in der gegebenen Reihenfolge: Sukkolarität, fraktaler Staub, fraktaler Schaum, Trema und schließlich fraktaler Schwamm.

Wird die Polyphonie in immer stärker ausgeprägte Extrembereiche geführt, erzeugt das eine Steigerung der Komplexität, die im Differenzierungspotential der musikalischen Faktur liegt. Die Ausdifferenzierung der bei der Polyphonie beteiligten Stimmen führt zu deren zunehmender Abtrennung bei gleichzeitig beibehaltener harmonischer Kontrolle des Gesamtgeschehens. Das Auskomponieren dieser Stimmen kann ab einem bestimmten Augenblick dazu führen, dass die nun sehr genau und unabhängig vom übrigen Geschehen gezeichneten Stimmen ihrerseits auch als Solostimmen, somit außerhalb ihres ursprünglichen Bezugsortes, fungieren können. Dann wird es möglich, innerhalb eines Werks weitere gleichsam unterzubringen – mit einem Werk, das aus mehreren Werken besteht, die gleichzeitig (als Polyphonie von Stücken) oder aber getrennt (als Einzelwerke) aufgeführt werden können. Solch eine Konzeption von Polyphonie nenne ich »Poly-Werk«. Mein drittes Poly-Werk ist der Kammerzyklus, der aus fünf Stücken besteht, die in folgender Weise miteinander zusammenhängen.

Das Kammerkonzert ist ein Stück für obligates Klavier und Kammerensemble mit drei Bläsern und drei Streichern, gleichsam ein kammermusikalisches Klavierkonzert. Der Klavierpart enthält eine etwa einminütige Solokadenz, die extern gespielt werden kann und dann Kammerminiatur heißt. Dieses Stück enthält, auf extrem komprimiertem Raum, die gesamte musikalische Substanz des Kammerstücks, das den übrigen Klavierpart (die Kadenz überspringend) bildet und ebenfalls extern aufgeführt werden kann (mit zusätzlichen Angaben zur Agogik, also leicht bearbeitet). Die beiden Ensemblehälften, also die Bläser mit Alt- und Bassflöte, Oboe d’amore und Englischhorn sowie Bassetthorn und Bassklarinette (demnach die tieferen Vertreter der Instrumentalfamilien) sowie die Streicher mit Viola, Violoncello und Kontrabass (ebenfalls die tieferen Streicher), wurden zu einem Bläsertrio und einem Trio basso verarbeitet, wobei das rhythmische und das Tonhöhenmaterial der Ensemblestimmen komplett (also ohne die Lücke der Solokadenz) übernommen, hingegen alle übrigen Parameter (vor allem Artikulation, Dynamik, Tempo und Klangfarbe) verändert worden sind. Zur expressiven Charakteristik ist zu sagen, dass die dunklen Farben des Ensembles im krassen Widerpart zur hellen, gleißnerisch-aufreizenden Oberlage des virtuos agierenden Klaviers stehen. Auf diese harte Unversöhnlichkeit habe ich bewusst abgezielt.

Dass die Zahl 3 für den Angelus-Novus-Zyklus konstitutiv ist, zeigt sich unter anderem daran, dass er aus drei Ensemble- und drei Solostücken besteht. Die letzteren sind: La vision d’ange nouveau für Violoncello (1997/98), La terreur d’ange nouveau für Flöte (1997/99) und Le rêve d’ange nouveau für Klavier (1999). Die drei Stücke sind mit den gleichen kompositorischen Prinzipien entwickelt. Gemeinsam sind drei Materialtypen, die sich vordergründig als »harmonisch«, »melodisch« und »rhythmisch-motivisch« beschreiben lassen. In jedem Stück dominiert ein Typus, während die beiden anderen Nebenmaterialien bilden. Im Stück für Klavier mit dessen großem Ambitus und den Pedalen dominiert das Harmonisch-Klangliche, in dem für Violoncello das Melodisch-Weitgeschwungene, in dem für Flöte das Rhythmisch-Motivisch-Repetitive. Weil die Form, aber auch die Intervallik und Teile der Rhythmik bei allen drei Stücken auf die gleiche Weise gebildet wurde, wurde darauf geachtet, jedem Stück ein besonderes Gepräge zu verleihen. Das Cellostück besteht aus bis zu drei Schichten, die der Spieler, hin- und hervermittelnd, polyphon koordinieren muss. Das Flötenstück ist in kleinere Fragmente gleichsam zerfetzt. Das Klavierstück arbeitet, neben motivischem Material, mit großdimensionierten Klangflächen, für deren Gestaltung die besondere klangliche Sensibilität des Spielers gefordert ist.

Gefragt, eine zeitgenössische Variation des durch Beethoven berühmten Diabelli-Walzers zu komponieren, beschloss ich, mich ein wenig wie Beethoven zu verhalten, nämlich die Vorlage gründlich zu ignorieren. Und da Beethoven am Ende seines genialen Zyklus im Minuetto die »bessere« Fassung der Vorlage präsentierte, wollte ich eine Rekomposition eben dieser letzten Diabelli-Variation von Beethoven vorlegen. Zugleich beabsichtigte ich, diese Komposition so zu gestalten, dass sie am Ende des Klavierkonzerts Prospero’s Epilogue (2004) erklingen werde. Da dort aber die dümmste aller möglichen Zwölftonreihen, nämlich die chromatische Skala, die Tonhöhenstruktur leitet, musste ich den Beethoven-Kommentar mit eben diesem dummen und weitgehend unbrauchbaren, daher nur mit großem Sachverstand einigermaßen flexibel handhabbaren Material komponieren. Der in gewisser Weise klassizistische und zugleich doppelbödige Charakter mag insofern nicht unwillkommen sein.

Für das Klaviersolostück Prospero-Fragmente entnahm ich aus dem Klavierpart von Prospero’s Epilogue für Klavier und Orchester eine bestimmte Anzahl von Fragmenten, die, ohne die ursprüngliche Reihenfolge im Konzert beizubehalten, zu einer neuen Konstellation zusammengestellt und mit vom Interpreten sehr frei zu gestaltenden Klangtakten verbunden wurden. Wie bei Shakespeare geht es auch in dieser Musik um die Frage nach dem Verzeihen. Das Verzeihen ist ein extrem komplexer Vorgang, denn er bezieht sich nicht nur darauf, einem anderen Menschen etwas zu verzeihen, sondern auch und vor allem, sich selber etwas verzeihen zu können. Und: was heißt das auf dem kollektiven Niveau, für die Konflikte zwischen Völkern, Nationen, Glaubensgemeinschaften? Vor allem beunruhigt mich die Frage: Die deutsche Kultur wird irgendwann sich selber verzeihen müssen, was sie mit dem »Dritten Reich« der Welt angetan hat – ein Prozess, der nur als aktiver vorgestellt werden kann. Wie wird das vor sich gehen?

Einen solchen aktiven Prozess nachzuzeichnen, ist in die Formidee des Klavierkonzerts eingewandert. Sie besteht, neben einem Prolog und Epilog, aus drei Teilen, deren erster etwas darstellt, was verziehen werden muss. Demgemäß habe ich versucht, wenn schon nicht das Böse, so doch etwas Schändliches darzustellen, sozusagen eine musikalische Beleidigung. Der Mittelteil versucht, genau das zu verarbeiten und sich damit versöhnend anzufreunden, es also letztlich zu verzeihen, indem es assimiliert wird an einen Zustand »jenseits«. Dieser folgt im dritten Teil: ein Idyll, eine naturhafte Ruhe, eine gelassene Folge. Formal unterlegt ist die Folge der 33 Diabelli-Variationen, deren 33. exakt an den Beethoven-Kommentar im Klavier anschließt, um zum Epilog zu führen.

Claus-Steffen Mahnkopf

Programm:

[01] Rhizom (1988/1989) 14:24

[02–06] 5 kleine Lakunaritäten (1994/1995) 09:54

[07] Kammerminiatur (1995)* 01:05

[08] Kammerstück (1995)* 16:15

[09] Le rêve d’ange nouveau (1999)* 10:26

[10] Beethoven-Kommentar (2004)* 04:05

[11] Prospero-Fragmente (2005)* 14:05

total time: 71:18

Ermis Theodorakis, piano

* World Premiere Recordings

Pressestimmen:


11/2012

TIPP

Labyrinth

[…] Auch wenn Mahnkopfs Musik (manchmal etwas manieristisch) Prinzipien und Klangwirkungen der Schönberg-Schule und des Serialismus auf die Spitze treibt, kann sie von hinreißender Expressivität sein. Zumindest, wenn sie so konsequent und differenziert gespielt wirdwie hier, ist sie über geläufige Vorurteile erhaben.

Musik: 
Klang: 

Dirk Wieschollek

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